Die lange Tradition des Ziegelbaus – länger geht es kaum, denn die ältesten Funde datieren aus dem 8. Jahrtausend v. Chr. – hat ihm in der zeitgenössischen Architektur einen rückschrittlichen Ruf eingetragen. Ähnlich imageschädigend war seine Verwendung in eintönigen Wohnsiedlungen. Trotzdem können viele innovative Architekten heute von diesem bewährten Baustoff nicht genug bekommen.

Das Saw Swee Hock Student Centre von O’Donnell + Tuomey ist ein gutes Beispiel für die enorme Flexibilität von Backstein. Mit dem Flämischen Verband lassen sich opake oder transparente Strukturen erzeugen; Foto: Dennis Gilbert/VIEWpictures.co.uk

Stein auf Stein | Aktuelles

Das Saw Swee Hock Student Centre von O’Donnell + Tuomey ist ein gutes Beispiel für die enorme Flexibilität von Backstein. Mit dem Flämischen Verband lassen sich opake oder transparente Strukturen erzeugen; Foto: Dennis Gilbert/VIEWpictures.co.uk

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Bei den Architekten der Moderne, die ihre Räume mit Licht durchfluten wollten, war der klobige, altmodisch wirkende Backstein verpönt. Man denke nur an die Pariser Maison de Verre (1932) von Pierre Chareau und Bernard Bijvoet, die fast ganz aus Glasziegeln besteht.

Es gab jedoch auch Architekten, die anders dachten. So ist es vielleicht kein Zufall, dass ausgerechnet Alvar Aalto, der Verfechter eines organischen Modernismus, für sein Experimentalhaus auf der finnischen Insel Muuratsalo (1953) die ästhetischen Möglichkeiten von Ziegelmauern erforschte. Da sich der Entwurf in die unberührte Natur einfügen sollte, entschied sich Aalto für eine Bricolage freier Ziegelmuster. Ein anderer Künstler derselben Zeit, der uruguayische Architekt und Ingenieur Eladio Dieste, ist für seine Gauß’schen Schalen, weite, selbsttragende Dachkonstruktionen aus einer einzigen Ziegellage, bekannt. Louis Kahns Indian Institute of Management Ahmedabad (1962 begonnen) aus vor Ort gewonnenem Ziegel und Beton zitiert die indische Bautradition und ist in seiner Einfachheit eine Ikone der Moderne. Um die Wärmeabstrahlung der Ziegelmauern auszugleichen, sorgen riesige Öffnungen in der Fassade für natürliche Belüftung.

Die perforierten Teile der Fassade des Saw See Hock Student Centre lassen Tageslicht einfallen und das Gebäude maurisch anmuten; Foto: Dennis Gilbert/VIEWpictures.co.uk

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Die perforierten Teile der Fassade des Saw See Hock Student Centre lassen Tageslicht einfallen und das Gebäude maurisch anmuten; Foto: Dennis Gilbert/VIEWpictures.co.uk

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Seit Beginn seiner Zusammenarbeit mit Helga Timmermann im Jahr 1984 benutzt der deutsche Architekt Hans Kollhoff für seine klassischen Entwürfe Ziegel. Sein Kollhoff-Tower auf dem Berliner Potsdamer Platz erinnert an amerikanische Art-déco-Wolkenkratzer. Der rostrote Torfbrandklinker trotzt den umliegenden Hightech-Bauten von Renzo Piano und Richard Rogers – ein Statement, das nicht alle Kritiker begrüssten. Noch neuer ist das Brick House des Architekturbüros Caruso St John in London, das innen mit rohen Ziegelwänden in elegantem Blassgelb aufwartet. Das Haus wurde 2006 für den Stirling-Preis nominiert, vielleicht auch das ein Anzeichen für die steigende Wertschätzung des Baumaterials Ziegel.

Die Reputation des Ziegels im Baugewerbe wächst. Ein Ziegelbau harmoniert einfach besser mit bereits bestehenden Ziegelbauten. Zudem bietet der kompakte, modulare Ziegelstein endlose Variationsmöglichkeiten, wenn ein Architekt plastische, reliefartige oder gemusterte Texturen schaffen will. (Schon der gewöhnliche Ziegelstein ist eine Wissenschaft für sich. Die Terminologie für verschiedene Formen, Abmessungen, Tönungen, Lochungen, Austiefungen, Schnittformen, Glasuren und Arten der Widerstandsfähigkeit gegen Hitze, Chemikalien usw. würde Bände füllen.)

Die halb-transparente Fassade des ABC Gebäudes von Wise Architecture in Seoul weist auf die dahinter liegenden Treppen hin, die vom Ziegelwerk geschützt werden. Die perforierten Wände geben Ausblicke auf einen nahegelegenen Park frei

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Die halb-transparente Fassade des ABC Gebäudes von Wise Architecture in Seoul weist auf die dahinter liegenden Treppen hin, die vom Ziegelwerk geschützt werden. Die perforierten Wände geben Ausblicke auf einen nahegelegenen Park frei

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Ziegel sind beständig und nachhaltig, denn sie bestehen zum Grossteil aus organischen Materialien. Angeregt möglicherweise von maurischen Vorbildern versuchen einzelne Architekten sogar, das Vorurteil zu widerlegen, dass Ziegelmauern unbedingt schwer und undurchdringlich sein müssen. Strukturale Auflockerungen sollen Luft und Licht in die Gebäude lassen oder dekorative Muster erzeugen.

Ein gelungenes Beispiel neueren Datums ist das Saw Swee Hock Student Centre der London School of Economics von O’Donnell + Tuomey. Das Studentenzentrum mit Cafés und Turnhalle ist in rote, merkwürdig geknickte Ziegelwände gekleidet. Ausschlaggebend für die Definition der Flächen war das Netz der mittelalterlichen Gässchen um den Standort, denn das Architektenteam musste Auflagen der Stadtverwaltung Rechnung tragen, die vorschrieben, dass die freie Sicht und der Lichteinfall in den anliegenden Häusern möglichst wenig behindert wird. „Unser Entwurf fügt sich in das lebendige Stadtbild und lässt dabei vertraute Materialien fremd erscheinen“, erläutert O’Donnell. „Die Ziegel der Fassaden bilden durchbrochene Muster, die Lichtflecken in die Innenräume werfen. Nachts, wenn das Gebäude innen erleuchtet ist, sieht es von aussen aus wie eine Laterne.“ Die auffällige Form ist keineswegs Selbstzweck, vielmehr suchten O’Donnell + Tuomey eine Lösung, die nahtlos mit der Umgebung verschmilzt. Dies gelang dank der stellenweise perforierten Ziegelfassaden.

Joho Architecture verwenden für die skulpturale, organische Form ihres Curving House in Südkorea Ziegel. Die Form des Hauses vergleichen sie mit der eines Fisches

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Joho Architecture verwenden für die skulpturale, organische Form ihres Curving House in Südkorea Ziegel. Die Form des Hauses vergleichen sie mit der eines Fisches

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Das Fassadenmuster des Curving House von JOHO Architecture erinnert an Fischschuppen. Graue, in verschiedenen Winkeln gesetzte Ziegel kontrastieren mit poliertem Edelstahl

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Das Fassadenmuster des Curving House von JOHO Architecture erinnert an Fischschuppen. Graue, in verschiedenen Winkeln gesetzte Ziegel kontrastieren mit poliertem Edelstahl

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Eine ähnlich luftige Ziegelfassade weist auch das ABC Building in Gangnam, Seoul, auf, entworfen vom Büro Wise Architecture. Wieder wird die Mauermasse transparent, sodass man beim Ersteigen der Eingangstreppe reizvoll fragmentierte Ausblicke auf den Park nebenan erhält. Interessanterweise handelt es sich um ein Trockenmauerwerk, das heisst, die Ziegel wurden ohne Mörtel gelegt.

Das Fassadenmuster eines anderen südkoreanischen Projekts, des Curving House von JOHO Architecture, erinnert an Fischschuppen. Graue, in verschiedenen Winkeln gesetzte Ziegel kontrastieren mit poliertem Edelstahl. Eine Kombination, die optische Effekte erzeugt: Die Ziegel werfen markante Schatten, während die Stahlflächen die ländliche Umgebung spiegeln und sich dadurch aufzulösen scheinen.

Der Münchner Architekt Dominikus Stark wählte handgefertigte Ziegel als Hauptmaterial für sein Nyanza Education Centre in Ruanda. Der dezent zurückhaltende Entwurf verweist auf die lokale Bautradition und rückt das handwerkliche Können der Ziegelbrenner in den Vordergrund. Zum Konzept passen die von lokalen Korbflechtern gefertigten Türen aus Weidenruten.

Der Gedanke der Nachhaltigkeit inspirierte HMA Architects & Designers, für eine neue Ausstellungshalle der Expo 2010 in Shanghai Backsteine einer ehemaligen Fabrik zu recyclen und wiederzuverwenden

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Der Gedanke der Nachhaltigkeit inspirierte HMA Architects & Designers, für eine neue Ausstellungshalle der Expo 2010 in Shanghai Backsteine einer ehemaligen Fabrik zu recyclen und wiederzuverwenden

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Das Büro HMA Architects & Designers setzte bei seinem Umbau einer ehemaligen Fabrik im historischen Shanghaier Stadtteil Puxi zum Pavillon für die Expo 2010 ebenfalls auf Nachhaltigkeit, ohne deshalb die ästhetische Qualität zu vernachlässigen. Baufällige Trakte wurden abgerissen und aus den gewonnenen Ziegeln neue Mauern mit dekorativen Mustern errichtet.

Die Verwendung des Baumaterials Ziegel erlaubt es Architekten eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schaffen. So verblendeten Inger und Johannes Exner bei ihrer Restaurierung der niedergebrannten Mittelalterburg Koldinghus im dänischen Jütland (1992 fertiggestellt) Segmente der Originalmauern mit neuen Ziegeln, um zu zeigen, dass der Bau sich in steter Entwicklung befindet. Der chinesische Architekt und Pritzker-Preisträger Wang Shu – ein passionierter Fürsprecher des architektonischen Erbes, der seinen Studenten an der chinesischen Hochschule der Künste das Maurerhandwerk lehrt – verwertete für die Fassaden seines Ningbo-Museums (2008) Altziegel.

Die kürzlich von Chris Dyson Architects gebaute Erweiterung eines georgianischen Hauses in London fügt sich dank der traditionellen Maurertechnik nahtlos in seine Umgebung

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Die kürzlich von Chris Dyson Architects gebaute Erweiterung eines georgianischen Hauses in London fügt sich dank der traditionellen Maurertechnik nahtlos in seine Umgebung

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Historisch aufgeladen ist auch die surreale Installation „From the Knees of My Nose to the Belly of My Toes“ des britischen Künstlers Alex Chinneck in Margate, England. Die Fassade einer Hausruine erhielt eine neue Ziegelverkleidung, die aussieht, als wäre sie herabgeglitten, sodass das oberste Stockwerk frei liegt. Chinneck verortet sein Werk im Kontext der fortschreitenden Stadterneuerung Margates. Da die Installation sich in einer ehemals wohlhabenden Wohngegend befindet, wirkt sie wie ein elegischer Nachruf auf deren Niedergang und verblassenden Glanz.

Alex Chinneck bat Firmen, Material und Werkzeuge zu spenden, um seine Installation in Margate in Grossbritannien zu realisieren. Zu den Sponsoren zählen u.a. die britischen Ziegelhersteller Ibstock Brick

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Alex Chinneck bat Firmen, Material und Werkzeuge zu spenden, um seine Installation in Margate in Grossbritannien zu realisieren. Zu den Sponsoren zählen u.a. die britischen Ziegelhersteller Ibstock Brick

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Was die Zukunft des Ziegels betrifft, besteht heute die Möglichkeit, auf dem Computer aufwendige Konstruktionsmodelle zu entwerfen, die dann mithilfe hochmoderner automatisierter Ziegelbautechniken umgesetzt werden. Vorreiter dieser Technologie sind die Schweizer Architekten Gramazio & Kohler. Deren mobiler R-O-B-Roboter kann vor Ort schnell und präzise Ziegelmauern mit erstaunlich komplexen Kurven und Mustern errichten. Das Gerät kam bei Projekten wie dem Weingut Gantenbein in Fläsch, Schweiz (mit den Architekten Bearth & Deplazes), und der undulierenden Ziegelwand Structural Oscillations für die Architekturbiennale in Venedig (2008) zum Einsatz.

Wer Ziegel als rückständigen Baustoff betrachtet, hat also selbst den Fortschritt verpasst. Denn man kann mit Sicherheit darauf bauen, dass der archetypisch einfache Baustein auch in Zukunft die Fantasie kreativer Architekten anregen wird.

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