Fotograf: Anja Schlamann
Fotograf: Anja Schlamann
Mehr als 30.000 Bücher umfasst der Bestand der Bürgerbibliothek im Magdeburger Stadtteil Salbke, der seit Juni 2009 in Teilen auch in der zugehörigen Freiluftbibliothek zugänglich ist. Die Regale sind nicht verschlossen, die Bücher können rund um die Uhr entnommen werden. Es ist eine Bibliothek des Vertrauens, ohne Bürokratie und Leihschein. - Diese Entwicklung war zu Beginn der Planungsarbeit (2004) nicht abzusehen.
Das Grundstück der Freiluftbibliothek liegt im Zentrum des ehemaligen Fischerdorfes, das in der Gründerzeit stark industriell überformt wurde. Die großen Industriegebiete sind in den 1990er Jahren nach und nach aus der Nutzung gefallen. Das Verschwinden der Arbeit hat eine Abwärtsspirale aus Wegzug, Leerstand und extremer Arbeitslosigkeit in Gang gesetzt. Salbke steht für Schrumpfung und Sinnbild für ein postindustrielles Pompeji: Die Ortsmitte steht zu 80% leer, nur ein vietnamesischer Händler betreibt noch einen Laden an dem angerförmigen, fast dörflichen Platz, den vor der Wende ein Bäcker, ein Metzger, ein Elektroladen, ein HO-Markt, ein Schuhgeschäft und sogar eine Eisdiele säumten.
Der Niedergang war freilich schon in der DDR vorgezeichnet. Zu den unsanierten Häusern kam ein Gebäudebrand Ende der 1980er Jahre, in dessen Folge die Ortsbibliothek am Platz abbrannte und nicht wieder ersetzt wurde. Schon vor seiner wirtschaftlichen Grundlage verlor der Stadtteil damit seine kulturelle Mitte. Die strategische Lage der Brachfläche und ihr Erinnerungswert als Bibliothek erschienen deshalb als besonders geeignet, um einen Erneuerungsprozess in Gang zu setzen.
Stadt auf Probe / Soziale Plastik
Die Findung von Form und Funktion gründet auf einem Partizipationsprozess an dessen Anfang eine Intervention im öffentlichen Raum stand. Ein leeres Ladenlokal, direkt an der Brachfläche gelegen, diente als Basislager für einen einwöchigen Workshop. Hier wurden an einem Stadtmodell Entwürfe und Möglichkeiten durchgespielt und verworfen, Modelle von Kindern und Bewohnern des Stadtteils gebaut und am Ende der Woche die tragfähigste Lösung als Modell im Maßstab 1:1 errichtet, um die so gefundene Idee einer langen Bücherwand mit Bühne einem temporären Funktionstest zu unterziehen.
Das Baumaterial (1.000 Bierkisten) stellte ein lokaler Getränkehändler, ein Spendenaufruf nach Büchern fand in der gesamten Stadt Widerhall und die so zusammengetragenen Bücher füllten die Regale der temporären Installation. Obwohl das improvisierte Bibliotheksmöbel nur für zwei Tage den Stadtraum bestimmte, hat es eine dauerhafte Wirkung entfaltet. Die Anwohner haben die Idee aufgegriffen und als informelle Bürgerbibliothek in eigener Regie fortgeführt.
Der Buchbestand wuchs schnell auf über 10.000 Bände an und im Jahr 2006 wurde das Projekt als Modellvorhaben in ein ExWoSt-Forschungsprojekts des Bundes aufgenommen. Damit war die Umsetzung der Freiluftbibliothek als dauerhaftes Stadtmöbel finanziell abgesichert.
In dem weiteren Beteiligungsprozess wurde die Idee eines „grünen Wohnzimmers“, das geschützt vom Straßenlärm eine Ruhezone im Stadtteil bieten soll weiter verfeinert. Diesem Grundkonzept folgt die Hüllkonstruktion des Stadtmöbels mit einer harten Alu-Modul-Fassade zur Straße und einer weichen Fassade aus einer vertikalen Lärchenholz-Lattung zum Freiraum hin.
Recycling der Nachkriegsmoderne
Auffälligstes Merkmal des Objektes ist zweifelsohne die Fassade aus tiefgezogenen Aluminiumformteilen, die mit ihrer modernistischen Ornamentik an eine Kaufhausfassade aus den 1960er Jahren erinnert. Tatsächlich stammt die Fassade samt Unterkonstruktion von einem
ehemaligen Horten Warenhaus, das im Jahr 2007 in der westfälischen Stadt Hamm abgebrochen wurde. Die dortige Stadtverwaltung hat die Fassade zur Unterstützung des sozialen Projektes in Magdeburg zu sehr günstigen Konditionen (unterhalb des Rohstoffwertes) abgegeben.
Architekt war hier nicht Egon Eiermann, mit dem fälschlicherweise alle Bauten der Horten-Serie in Verbindung gebracht werden, sondern die Architekten Rhode Kellermann Wawrowski (RKW),
die den Bau 1966 erstellt haben. (Eiermann hat nur die Häuser in Stuttgart und Heilbronn entworfen)
Ausgangspunkt der gesamten Fassadenüberlegung war wiederum der Beteiligungsprozess, bei dem sich mehrere Bürger für den Einsatz von Recyclingmaterial ausgesprochen hatten. Kontakte der Architekten zur Stadtverwaltung in Hamm führten letztlich zum Vorschlag dieser ungewöhnlichen Idee, die von den Bürgern mit Begeisterung aufgenommen wurde und heute als neues „Village Icon“ den Aufbruch des Stadtteils nach Jahren starker demografischer Schrumpfung signalisiert.
Fassade im Detail
Da für die vierzig Jahre alte Fassade kein Bauteilzertifikat vorlag, wie dies in Deutschland mittlerweile für alle im Bau eingesetzten Materialien erforderlich ist, musste für die Konstruktion bei der obersten Bauaufsichtsbehörde des Landes Sachen-Anhalt eine „Zustimmung im Einzelfall“ eingeholt werden.
Die erforderliche Materialprüfung hat dabei ergeben, dass die Fassade statisch in einwandfreiem Zustand ist, weshalb sie ohne zusätzliche konstruktive Verstärkungen mit der Originalunter-konstruktion eingebaut werden konnte. Lediglich die Beschichtung der Formteile wies „Auskreidungen“ auf. Die Module wurden deshalb chemisch entlackt und mit einer neuen Pulverbeschichtung überzogen.
In der äußeren Fassade sind gläserne Aluminium-Vitrinen eingelassen, die im Sinne eines Info-Boards des Stadtteils der Präsentation von Vereinen dienen. Die gläsernen Aluminium-Vitrinen in der inneren Fassade nehmen den Buchbestand der Freiluftbibliothek auf, der rund um die Uhr frei zugänglich ist. Entlang der Holzfassade verläuft durchgängig eine ca. 30m lange Sitzbank, die nach Westen hin orientiert ist. An zwei Stellen vermitteln sogenannte Leseinseln zwischen Straße und Freiraum: Die holzverkleideten Sitznischen sind hier mit einer grün gefärbten VSG Glasscheibe gegen den Straßenlärm abgeschottet.
Der Sockel besteht umlaufend aus Stahlbeton-Fertigteilen. Die Gestaltung mit Graffitis erfolgte im Rahmen eines Wettbewerbs, zu dem alle Jugendlichen aus Magdeburg ihr „tag“, d.h. ihre persönliche Graffiti-Unterschrift einreichen konnten. Die besten „tags“ wurden dann von Jugendlichen selbst aufgebracht. Vorgegeben war lediglich die Verwendung der Farben Weiß, Schwarz und Chrom.
Landeshauptstadt Magdeburg
KARO*, Antje Heuer, Stefan Rettich, Bert Hafermalz, Leipzig
with
Architektur+Netzwerk, Sabine Eling-Saalmann, Magdeburg
Bürgerverein Salbke, Fermersleben, Westerhüsen e.V.
Fördermittelgeber Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung/
Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung
Abteilung ExWoSt (Experimenteller Städte- und Wohnungsbau)
>>> Lesezeichen für Salbke ist eines von 7 Modellvorhaben
im ExWoSt-Forschungsfeld >familien- und altengerechte Stadtquartiere
Fotograf: Anja Schlamann
Fotograf: Anja Schlamann
Fotograf: Anja Schlamann
Fotograf: Anja Schlamann
Fotograf: Anja Schlamann