Ein Interview mit Helmut Jahn
Text von ArchDaily
12.05.21
2018 sprach der Architekt und Schriftsteller Vladimir Belogolovsky für ArchDaily mit Helmut Jahn über dessen Leben und Arbeit.
Irgendetwas ist in den letzten Jahren mit der Bereitschaft von ArchitektInnen zur Originalität geschehen. Die kühnsten Visionen kommen neuerdings oft von der alten Garde der Architektur – und offen gesagt, geniesse ich Gespräche mit ihnen umso mehr. Das aktuelle Beharren auf Gemeinsamkeiten hat so viele jüngere ArchitektInnen in einen zombieartigen Zustand von Nachahmern versetzt. Für mich bedeutet Gemeinsamkeit aber vielmehr, nicht gleich zu denken. Denn erst dann gibt es Raum für Diskurs.
Mein jüngstes Gespräch mit Helmut Jahn in seinem Chicagoer Büro ist ein eindrucksvoller Beleg hierfür. “In der Architektur geht es darum, dass man auf sein Bauchgefühl hört. Mir ist es lieber, wenn die Form der Kraft folgt und nicht der Funktion”, sagte er mir. Seine bemerkenswerte Karriere war eine voller Wendungen, und er hatte keineswegs vor, in der nächsten Zeit mit dem Ausloten von Ideen aufzuhören. Mit dem Thompson Center von 1985, der auf dem Grundriss eines Kreissegments beruht, gab er einer profanen Regierungstypologie ein ganz neues Image und verwandelte sie in einen aufstrebenden öffentlichen Ort, dessen geschwungene Fassade aus farbigem Glas eine postmoderne Phase in Chicago einläutete (– eine Phase, von der wir dachten, sie sei bereits zu Ende gegangen, doch nun scheint sie weiterzugehen und alle postmodernen Bewegungen als blosse Nuancen und Variationen in sich zu vereinen).
Jahns Architektur erschütterte und modernisierte eine Reihe von Weltstädten, und mit der Zeit und immer mehr Erfahrung mündete das, was als Rebellion gegen das Mies‘sche Diktum von "Weniger ist mehr" begann, in eine nuancierte, gemässigte, wenn auch zweifellos mutige Produktion von Türmen, Flughäfen, Kongresszentren, Hauptsitzen und vor allem öffentlichen Räumen. Wie Jahn selbst sagt: “...alles, was man nicht braucht, ist ein Gewinn. Man muss nicht nur weniger Dinge haben, sondern man muss mit den Dingen, die man übrig hat, auch mehr machen.”
Helmut Jahn: …Heutzutage wird soviel Banales gebaut…
Vladimir Belogolovsky: War das nicht immer schon so?
HJ: Nein, nicht wirklich. Bauträger, die wirklich gerne Gebäude errichten, gibt es nicht mehr. Ich kannte früher Bauunternehmer, die liebten es, auf eine Baustelle zu gehen und ihre Stiefel in den Schlamm zu stecken. Heute geht es nur noch ums Geschäft, und sie fangen gar nicht erst an, bevor nicht ihre Rendite gesichert ist. Beim Bauen geht es jetzt nur noch ums Profitmachen. Alles ist so durchkalkuliert: Es gibt keine Emotionen, keine Fantasie, keine Erfindungen. Dafür aber so viele eintönige Einzeiler-Gebäude…
VB: Ich denke, es gibt ArchitektInnen, die – unabhängig von den Umständen – immer gute Bauten produzieren werden. Lassen Sie uns über Ihre sprechen. Einige Kritiker bezeichnen Sie als "romantischen Modernisten" und bezeichnen Ihre Architektur als "romantischen High-Tech". Und Sie haben Folgendes gesagt: “Wir konstruieren keine Dekoration, wir dekorieren die Konstruktion.” Wie würden Sie denn die Intention Ihrer Architektur definieren?
HJ: Nun, diese Ideen gehen auf die Zeit direkt nach Mies zurück, kurz nachdem ich bei C.F. Murphy Associates, dem Vorgänger von Murphy/Jahn, angefangen hatte und ab Mitte der 1970er Jahre meine ersten selbständigen Gebäude entwarf. Damals arbeiteten alle noch im dogmatischen Mies'schen "Weniger ist mehr"-Modus. Als meine frühen Bauten dann Struktur und Farbe ausdrückten, erregten sie sofort Aufmerksamkeit. Dann wurde 1980 das Xerox Center hier in Chicago gebaut, das um eine Ecke gebogen ist. Das wurde ein echter Durchbruch und führte zu einer ganzen Reihe von markanten Gebäuden, insbesondere Türmen in Chicago, New York, Philadelphia, Singapur, und das ikonischste von allen wurde der Messeturm in Frankfurt mit 63 Stockwerken. Aber das war nur eine Phase, die zur nächsten führte, die Mitte der 1990er Jahre begann.
VB: Wie kam es zu diesem Wandel und wie hat sich Ihre Arbeit danach entwickelt?
HJ: Ich lernte Werner Sobek kennen, einen brillanten deutschen Architekten und Bauingenieur. Danach wurden meine Gebäude bekannt für das, was wir Archineering nannten, die Zusammenarbeit zwischen einem Architekten und einem Ingenieur in einem frühen Stadium des Entwurfs. Dabei ging es nicht so sehr um die Ästhetik, sondern um die Gebäudeperformance und die Konstruktionsweise von Gebäuden – und um den Materialeinsatz.
VB: Wann sind Sie Sobek zum ersten Mal begegnet?
HJ: 1994; unser erstes Gemeinschaftsprojekt war die Gestaltung des Flughafendachs in Bangkok. Es folgte das Sony Center in Berlin. Sobek war der erste, der mir sagte: “Helmut, das kannst du nicht machen.” Heute sagt er mir oft: “Du brauchst mich nicht. Du kennst deine Strukturen.” Wir arbeiten sehr eng zusammen und tauschen ständig unsere Rollen – der Architekt denkt wie ein Bauingenieur und der Ingenieur wiederum wie ein Architekt. Aus dieser Zusammenarbeit sind neuartige Gebäude hervorgegangen. Der Post Tower 2003 in Bonn war ein Wendepunkt, danach wurde die Arbeit zurückhaltender und ausgefeilter.
Diese Gebäude funktionieren besser, vor allem seit wir mit dem Stuttgarter Umweltingenieur Matthias Schuler zusammenarbeiten. Seine wegweisende Firma Transsolar Energietechnik ist bei der Entwicklung nachhaltiger Designstrategien für Gebäude beratend tätig. Unser erstes gemeinsames Projekt war der Flughafen in Bangkok, bei dem der örtliche Ingenieur meinte, dass unser Gebäude ökologisch nicht funktioniert. Daraufhin haben wir Schuler gemeinsam mit Sobek interviewt. Seitdem ist er mit an Bord. ArchitektInnen müssen Innovationen vorantreiben. Aber heute ist es so viel schwieriger, erfinderisch zu sein, weil es so viele bereits etablierte Vorgehensweisen gibt. Und da unsere Bauherren Innovationen nicht mehr unterstützen, ist es noch viel schwieriger.
VB: Womit wir beim Ausgangspunkt unseres Gesprächs wären...
HJ: Nun, wenn wir auf die 15 besten Gebäude meiner Karriere verweisen, sind sie alle das direkte Ergebnis einer Zusammenarbeit mit guten Bauherren. Immer wenn ich jetzt etwas Interessantes vorschlage, höre ich als erstes von ihnen: “Aber ist das nicht zu teuer?” Und das spiegelt sich in allen neueren Gebäuden wider. So viele von ihnen sind 08/15- Lösungen. Und die meisten werden nicht gut altern. Natürlich gibt es Ausnahmen. Aber wir haben keine Bauherren mehr, die eine Haltung unterstützen, etwas Neues zu machen. Die meisten Bauherren haben Angst, das Risiko eines Fehlers einzugehen. Und das ist das grösste Handicap, wenn man Fortschritt erzielen will.
VB: Mitte der 1980er Jahre hatten Sie mal gesagt: “Heute gibt es keine anerkannten Grundsätze. Alle Regeln, alle Stile, sind entweder tot oder stehen unter Beobachtung, ob sie überleben werden. Für mich ist das aufregend und belebend. Es ist eine Art von Freiheit, die wir geniessen müssen.” Heute scheinen Sie dem nicht mehr zuzustimmen. Haben Sie immer noch das Gefühl, dass alle Stile tot sind und dass man seine eigene Richtung frei wählen kann?
HJ: Leider haben wir diese Freiheit der Möglichkeiten nicht mehr und es herrscht nicht das richtige Klima, in dem man diese Einstellung verkaufen kann. Die heutigen Bauherren sind Grosskonzerne, Grossbanken und grosse Projektentwickler. Sie wollen alle auf Nummer Sicher gehen. Also haben sie lieber mit diesen riesigen Architekturkonglomeraten zu tun, die von Kollektiven geführt werden – und nicht von Individuen, die eine Haltung zur Architektur haben. Sie sitzen mit ihren Büros überall, sie haben ihre eigenen Ingenieure, und das Risiko ist gleich Null. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber sie dominieren dennoch. Wer es sich leicht macht, wird niemals eine neue oder progressive Architektur hervorbringen.
VB: Dennoch gibt es immer noch eine Reihe von individuellen, idealistischen ArchitektInnen, die gegen alle Widrigkeiten kämpfen.
HJ: Klar, ich kämpfe, und wir bekommen trotzdem Aufträge. Aber es ist viel schwieriger geworden. Und ich baue nicht mehr so viel. Im Vergleich zu früher beschäftigen wir nur noch ein Drittel der ArchitektInnen.
VB: Sie sagten, Sie kämpfen für gute Architektur, und Sie sind ein Kämpfer, seit Sie 1966 aus Deutschland nach Chicago gegangen sind – ein Jahr nach Ihrem Abschluss an der Technischen Universität München.
HJ: Ich hatte ein Stipendium des Rotary Clubs, um am Illinois Institute of Technology zu studieren. Eine der ersten Aufgaben war, ein bestimmtes Gerichtsgebäude zu entwerfen. Das habe ich abgelehnt; ich wollte keine Einschränkungen. Dann wurden wir für den Kurs in Visual Training gebeten, schwarzes und weisses Papier mitzubringen. Ich brachte von jeder Farbe eins mit. Vielleicht war es nicht schwarz-weiss genug, jedenfalls sagte mein Professor: “Dieses Papier ist nicht schwarz und nicht weiss. Holen Sie die richtigen Farben.” Und ich sagte daraufhin: “Ich hole gar kein Papier mehr! Dafür bin ich nicht hergekommen.” [lacht]
VB: Weshalb sind Sie denn dorthin gegangen?
HJ: Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte erst ein Jahr zuvor die Uni abgeschlossen. Und war dieses rebellische Kind. Was wusste ich schon? Und dann schlug mir George Danforth, der Direktor der Architekturschule am IIT, einen Teilzeitjob in einem Büro vor. So begann ich mit Gene Summers bei C.F. Murphy Associates zu arbeiten. Ich weiss noch, wie genau ich die Zeichnungen für einige der realisierten Bauten im Büro studierte. Wer macht das heute noch? Heute schauen alle nur noch auf den Computerbildschirm. Und wo sind die älteren ArchitektInnen mit echter Erfahrung? Anscheinend machen hauptsächlich junge ArchitektInnen, die frisch von der Uni kommen, die ganze Arbeit. Aber die Leute müssen erst etwas lernen, bevor man ihnen echte Verantwortung überträgt.
Ich weiss noch, wie ich bei einem der Design Reviews in Yale mit James Stirling in einer Jury sass und ein Student, der ein sehr schwaches Projekt hatte, mich wegen eines meiner Gebäude angriff und Jim daraufhin sagte: “Helmut, lass mich das übernehmen.” Und er zerriss den Kerl in Stücke. Er sagte: “Was zum Teufel wissen Sie über Entwürfe? Wir wissen, wie man entwirft. Aber Sie müssen etwas lernen.” Nun, ich war nie ein guter Lehrer, weil ich kein guter Zuhörer bin. Ich habe keine Geduld. [lacht]
VB: Viele ArchitektInnen vergleichen Ihre Büros mit Schulen. Wie bringen Sie Ihren Mitarbeitern hier etwas bei?
HJ: Ich arbeite mit Leuten, von denen ich denke, dass sie Talent haben und deshalb lohnt es sich, mit ihnen zu arbeiten. Man braucht viele Leute, um Gebäude zu entwerfen. Daher verlasse ich mich hier auf viele Leute. Ich mache endlose Skizzen und bitte meine Designer, zahlreiche Modelle zu bauen. Ich bilde mir ein, dass sie etwas von mir als Vorbild lernen können.
VB: Zu Beginn Ihrer Karriere haben Sie gegen den Mies'schen Ansatz rebelliert, den Sie als restriktiv empfanden. Aber, wie Sie sagten, wurde Ihre Arbeit im Laufe der Jahre immer ausgereifter. Würden Sie sagen, dass seine Arbeit heute mehr Relevanz für Sie hat?
HJ: Ich versuche nicht, meine eigene Arbeit auf diese Weise zu analysieren. Das sollen andere entscheiden. Ich mache einfach weiter. Ich entwerfe gerade einen neuen Turm in Berlin, das Europa Center 2, das fast dreimal so hoch sein wird wie das derzeit höchste Gebäude der Stadt. Das Gebäude ist sehr einfach, aber ich habe viele Dutzende Modelle gemacht, um zu dieser Form zu gelangen. Und was Sie hier sehen, habe ich von einigen meiner früheren Projekte übernommen. Aber man kann Ideen nicht einfach von Projekt zu Projekt tragen. Jede Skyline ist anders, jeder Standort hat andere Bedingungen. Jedes Projekt ist eine Antwort auf sehr spezifische Bedingungen. In der Architektur geht es nicht nur um eine reine Formgebung. Aktuell experimentieren wir mit einer neuen Aufzugstechnologie, die neue aufregende Möglichkeiten für unsere Turmentwürfe bietet. Auch der Einsatz von neuen Beschattungssystemen, die in Glasscheiben eingebettet werden können, birgt neue Möglichkeiten. Der Prozess ist endlos.
In einem Punkt hatte Mies Recht: Man kann herausragende Qualität nur mit weniger erreichen, nicht mit mehr. Das habe ich sehr viel besser verstanden, als ich Sobek kennenlernte. Seitdem kommt es mir vor, als ginge ich wieder zur Uni. Vorher war ich es gewohnt, Dinge selbst herauszufinden oder mich auf die Aussagen meiner Ingenieure zu verlassen, aber mit ihm war es anders. Von ihm lerne ich nicht nur eine Lösung, sondern auch den Grund für diese Lösung. Er sitzt direkt neben mir, wenn wir Entwürfe zeichnen, und wenn ich einen Träger zeichne, sagt er: “Dieses Teil will dort nicht sein.” Aus diesem Grund ging die Arbeit mehr auf die Struktur ein. Schauen Sie sich das United Airlines Terminal One am O‘Hare Airport an, das ich 1986 gebaut habe. Sobek hätte mich das nie machen lassen. Heute denke ich, dass dieses Dach mit einem Bogen und einem geraden Knick so etwas wie Hightech-Barock ist.
In der Architektur geht es um Raum und Licht, aber mir ist es lieber, wenn die Form der Kraft folgt und nicht der Funktion.
VB: Könnten Sie etwas zu Ihrem Thompson Center sagen? Wie sehen Sie seinen Platz in der Geschichte Chicagos jetzt, wo seine Zukunft ungewiss ist?
HJ: Das Thompson Center war ein Regierungsgebäude, das in einen öffentlichen Ort verwandelt wurde. Bei seiner Eröffnung 1985 schrieb es Geschichte, weil es ein neuer öffentlicher Ort für die Stadt wurde. Es war eine neue Art, privaten und öffentlichen Raum zu verbinden. Natürlich war es aus politischen Gründen nie ein gut verwalteter öffentlicher Ort. Er ist nicht einmal an Wochenenden geöffnet und es gibt so viele Einschränkungen, wo die Leute hingehen können und wo nicht. Dennoch kann ich mir vorstellen, dass er in Zukunft von einem privaten Unternehmen wie Google genutzt wird.
Die ursprüngliche Idee war, das Gebäude von allen Seiten zu öffnen. Ich habe mit einem massiven Block begonnen. Aber ich hatte den Eindruck, dass das Gebäude einen öffentlichen Platz haben muss. Also schnitt ich eines Tages die Ecke in einem Winkel ab und krümmte sie, um die traditionelle Kuppel von Regierungsgebäuden darzustellen. Als wir das Atrium umschlossen, hatte ich das Gefühl, das Gebäude habe etwas verloren. Deshalb wurde 15 Jahre später beim Entwurf des Sony Centers in Berlin das Atrium dort zum offenen Innenhof. Ich weiss noch, wie der Vorsitzende von Sony das Modell betrachtete und fragte: “Herr Jahn, wo sind denn die Türen?” Ich meinte: “Es gibt keine Türen.” Und er sagte: “Aber dann kann ja jeder reinkommen”, und ich sagte: “So ist es!” [lacht] Das haben wir versucht, und er hat nie wieder etwas gesagt.
VB: Dann war es also das Thompson Center, das den Anstoss zum Sony Center gab.
HJ: Absolut. Das Sony Center ist die neue Art von urbanem Raum für eine neue Gesellschaft und neue Vorlieben. Aber man kann auch auf die Geschichte schauen und aus ihr lernen. Schauen Sie sich die öffentliche Piazza in Siena an; sie ist eine Inspiration für das Sony Center. Ein Projekt führt zum nächsten.
VB: Lassen Sie uns über diese Entwicklung sprechen. Thompson aus dem Jahr 1985 hat zu Sony im Jahr 2000 geführt, und wozu hat Sie Sony als nächstes bewogen?
HJ: 2008 haben wir einen Mischnutzungskomplex mit Einkaufszentrum, Hotels, Wohnungen und Unterhaltungseinrichtungen für den zentralen Platz der Innenstadt von Jebel Ali in Dubai entworfen, aber das Projekt kam durch die damalige Finanzkrise zum Erliegen. Dieses Projekt hob das Sony Center auf eine viel grössere urbane Ebene. Ich denke, die Zeit von 1995 bis 2008 war die interessanteste Phase für meine Architektur. Von Seiten der Bauherren kam eine gute Portion Druck, spannende Projekte zu realisieren.
VB: Was Sie sagen, gilt gleichermassen für zahlreiche weitere Bauten, denn dieser zeitliche Rahmen überschnitt sich exakt mit der bekannten Phase, als Bauherren von ihren ArchitektInnen überaus markante Bauten mit individueller Handschrift verlangten.
HJ: Schauen Sie sich die Corporate Architecture an. Sie war immer symbolträchtig. Aber seit einem Jahrzehnt haben Bauherren kein Interesse mehr daran. Schauen Sie sich Google oder Facebook an. Sie haben Campusse in Vororten – und in New York ziehen sie in Bestandsgebäude ein. Architektur ist für sie keine Kunstform mehr. Alles, was sie wollen, ist ein Dach über dem Kopf. Und sie kümmern sich nicht mehr um ihr Image: Früher trugen diese Leute schicke Anzüge, heute laufen sie stattdessen in T-Shirts herum. Deswegen bauen viele Unternehmen keine neuen Gebäude mehr, sondern mieten nur noch standardisierte Flächen von Projektentwicklern.
VB: Wie können ArchitektInnen sich wehren?
HJ: Nun, Architektur ist so schwierig. Es ist leicht, darüber zu reden, aber sehr schwer, sie umzusetzen. Wissen Sie, bei guter Architektur geht es darum, dass man auf sein Bauchgefühl hört. Man hat etwas im Kopf und muss es einfach tun. Es ist wichtig, sich immer wieder diese Fragen zu stellen: Ist das die beste Vorgehensweise? Gibt es einen anderen Weg? Man darf nicht aufhören, nach einer besseren Lösung zu suchen, so wie es die ArchitektInnen nach Mies getan haben. Sie dachten wirklich, er hätte die absolute Perfektion erreicht – und von da an wüssten wir ein für alle Mal, wie man Architektur macht. Aber wir müssen uns weiterentwickeln!
VB: Sie haben gesagt: “Transparenz ist nicht dasselbe, wie durch ein Gebäude hindurchzusehen: Es ist nicht nur eine materielle Vorstellung, sondern auch eine geistige.” Könnten Sie das näher erläutern?
HJ: Schauen Sie, es gibt kein Gebäude, das transparent ist. Jedes Gebäude hat Dinge in sich. Für mich ging es bei Transparenz immer um die Schichten, die man hineinlegt. Die Idee ist, dass man von einer Schicht zur nächsten lesen kann. Mir gefällt auch die Vorstellung, Gebäude von jeder Seite aus anders zu sehen.
VB: Und könnten Sie abschliessend noch eines Ihrer Zitate kommentieren: “Ich strebe eine Architektur an, bei der man nichts wegnehmen kann.”
HJ: Alles, was man nicht braucht, ist ein Gewinn. Man muss nicht nur weniger Dinge haben, sondern man muss mit den Dingen, die man übrig hat, auch mehr machen.
Bilder mit freundlicher Genehmigung von Helmut Jahn