Eduardo Souza untersucht die Designphilosophie der Pritzker-Preisträger 2021 Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal.

Umwandlung von 530 Wohneinheiten / Lacaton & Vassal. Bild © Laurian Ghinitoiu

Transluzenz & rohe Materialien: Eine kurze Analyse der Lösungen von Lacaton & Vassal | Aktuelles

Umwandlung von 530 Wohneinheiten / Lacaton & Vassal. Bild © Laurian Ghinitoiu

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Für Paulo Mendes da Rocha besteht die Funktion der Architektur in nichts anderem als darin, “die Unvorhersehbarkeit des Lebens zu fördern“. Räume stehen für den Alltag, für Begegnungen, für Landschaft und für Kunst. Sie sind so etwas wie ein Rahmen, der oft auch als tragendes Element eines Kunstwerks gilt, da er den Blick des Betrachters auf das Hauptobjekt lenkt und dieses hervorhebt. Das Diktum des brasilianischen Architekten passt gut zur Arbeitsweise des Büros Lacaton & Vassal. Die Auszeichnung mit dem Pritzker Prize wirft Fragen darüber auf, wie richtig ihre Entscheidungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind. Dies betrifft ihre Philosophie, ihre gestalterischen Lösungen sowie ganz allgemein die von ihnen gewählte Materialpalette.

Haus Latapie / Lacaton & Vassal. Bild: Courtesy of Philippe Ruault

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Haus Latapie / Lacaton & Vassal. Bild: Courtesy of Philippe Ruault

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Ein Projekt, das den Beginn der Karriere des französischen Duos markierte, war 1996 das der Place Léon Aucoc in Bordeaux, das Teil einer Initiative der Stadt zur “Verschönerung” des öffentlichen Raums war. Bei der Besichtigung des Platzes stellten die Architekten fest, dass er gut funktionierte, den Ansprüchen der Anwohner entsprach und so, wie er war, überaus charmant war. Einen Boden gegen einen anderen auszutauschen oder eine moderne Bank zu installieren, hätte im Leben seiner Nutzer kaum etwas verändert. So schlugen sie vor, das vorgesehene Geld in kleine Verbesserungen und die Instandhaltung des Platzes in den kommenden Jahren zu stecken. Die gestalterische Geste, fast nichts zu tun und die Funktion der Architektur neu zu überdenken, ist ein starkes Signal, das die Herangehensweise des Büros bis heute prägt.


Nutzen Sie das Bestehende, halten Sie das Ganze einfach, beziehen Sie die Natur mit ein und ehren Sie Licht, Freiheit und Anmut


Egal, wie klischeehaft es ist, dies zu sagen, das Büro scheint die sogenannten 4 Rs der Nachhaltigkeit zu verwirklichen: Reduce, Reuse, Recycle, Repurpose. Obwohl es sich dabei um Konzepte des gesunden Menschenverstands handelt, scheinen sich viele Büros von ihnen zu entfernen; Lacaton & Vassal dagegen beziehen sie ganz selbstverständlich ein. Ihre Arbeit kennzeichnet zunächst die Frage, ob es wirklich notwendig ist, neue Gebäude zu schaffen, zu bauen oder abzureissen. Die Architekten, die vor allem Umbauten planen oder in bestehenden städtischen Kontexten arbeiten, denken bei Aufnahme eines neuen Projekts grundsätzlich von innen nach aussen. Sie denken anders gesagt mit Empathie und versetzen sich in die zukünftigen Bewohner des Raumes hinein; für sie geht es nicht um Tabula rasa, sondern sie verstehen die Eigenschaften und das Potenzial von Projekten, sie zerstören nur das Minimum und nutzen das Bestehende auf optimale Weise aus. Die Idee des Hinzufügens und nicht des Abreissens, um etwas sehr Ähnliches zu bauen, verbessert die Umweltbilanz von Bauten erheblich – und dies in einer Industrie, die enorme Mengen an Abfall erzeugt. Die Wiederverwendung von Strukturen, die Erkundung ihres Potenzials und die Wiederverwendung von Materialien, wann immer möglich, sind die Eckpunkte der Arbeit von Lacaton & Vassal.

23 Semi-Kollektiv-Wohneinheiten / Lacaton & Vassal. Bild: Courtesy of Lacaton & Vassal (oben); Palais de Tokyo / Lacaton & Vassal. Bild Cortesia de Philippe Ruault (unten)

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23 Semi-Kollektiv-Wohneinheiten / Lacaton & Vassal. Bild: Courtesy of Lacaton & Vassal (oben); Palais de Tokyo / Lacaton & Vassal. Bild Cortesia de Philippe Ruault (unten)

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Bei Neubauten oder Erweiterungen bleibt der Ansatz des Büros derselbe. Mithilfe traditioneller Systeme von Pfeilern und Trägern, ohne weitreichende Änderungen oder architektonische Kühnheit, versehen die Architekten Räume durch gut markierte Tragwerke mit Rhythmen und Perspektiven. Beton – in der Regel Fertigbeton – und Stahl bleiben roh, wie auch die meisten Installationen. Die Struktur rationalisiert und moduliert Räume. Sie ist offensichtlich, aber sie ist nicht der Protagonist. Sie rahmt Ausblicke und das Leben.


Bauen Sie grosszügige Räume zu den geringstmöglichen Kosten, mit einem Sinn für Wirtschaftlichkeit, der nicht auf Komfort und Schönheit verzichtet. Geben Sie nur ein Minimum aus, um das Maximum zu erhalten


Das Einfache zu materialisieren ist allerdings stets komplizierter, als es scheint. “Bauen Sie grosszügige Räume zu den geringstmöglichen Kosten, mit einem Sinn für Wirtschaftlichkeit, der nicht auf Komfort und Schönheit verzichtet. Geben Sie nur ein Minimum aus, um das Maximum zu erhalten”, erklärte Anne Lacaton in einem Vortrag an der Harvard Graduate School of Design. Das allgegenwärtige Bekenntnis zur Wirtschaftlichkeit führt zu einer kompakten Materialpalette: Neben den bereits erwähnten freiliegenden Stahlkonstruktionen und dem Sichtbeton bestehen die Fassaden häufig aus Glasplatten oder transluzenten Platten, die die Struktur umschliessen. Diese verdienen eine besondere Erwähnung.

53 Semi-Kollektiv-Wohneinheiten / Lacaton & Vassal. Bild: Courtesy of Philippe Ruault

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53 Semi-Kollektiv-Wohneinheiten / Lacaton & Vassal. Bild: Courtesy of Philippe Ruault

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Viele der Bauten des Büros nehmen Bezug auf Gewächshäuser, auf die die Architekten in ihren Präsentationen immer wieder verweisen. Denn wenn Gewächshäuser, wie sie selbst betonen, so gut für Pflanzen sind, dann können sie auch gut für uns sein. Das ist in der Tat eine interessante Lösung für das französische Klima, in dem die meisten Werke des Büros gebaut werden. Die aus Polycarbonat, Lochblechen, Glas und ETFE bestehenden Platten versorgen den Raum einerseits mit natürlichem Licht, sorgen aber auch für thermische Behaglichkeit und Privatsphäre und lassen die Grenze zwischen Innen- und Aussenraum verschwimmen. Natürliches Licht ist ein massgeblicher Akteur der Projekte, besonders im Wohnbereich. Und dieses Licht ist so hell, dass die meisten Projekte tagsüber fotografiert werden. Die Strenge eines völlig kargen architektonischen Raums weicht den Unvollkommenheiten und Schönheiten des Alltags.

Umwandlung von 530 Wohneinheiten / Lacaton & Vassal. Bild: Courtesy of Lacaton & Vassal (oben); Philippe Ruault (mitte, unten)

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Umwandlung von 530 Wohneinheiten / Lacaton & Vassal. Bild: Courtesy of Lacaton & Vassal (oben); Philippe Ruault (mitte, unten)

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Selbst bei ausgeprägten Tragwerken wirken die Bauten von Lacaton & Vassal einzigartig leicht. Aus der Ferne scheinen die Grenzen unklar. Die Mischung aus Transparenz und Transluzenz der Fassaden offenbart das Innenleben der Bauten und formt Gebäude mit fast wandelbaren Fronten, die immer in Bezug zu ihrem Kontext stehen. In seinem Buch “Dentro do Nevoeiro” [1] liefert Guilherme Wisnik eine interessante Analyse der Transluzenz zeitgenössischer Fassaden. Während moderne Architektur im buchstäblichen und übertragenen Sinne Transparenz durch Glashüllen und Strukturen anstrebte, scheinen in seinen Worten “die aktuellen Gebäude mit transluzenten oder halb-opaken Fassaden, in denen das bauliche Gerüst verblasst, mit dem System der Informationssuche im Internet in Dialog zu treten. Ein System, das auf neuen erkenntnistheoretischen Mustern basiert, erstellt von Algorithmen, in denen alles nebeneinander und gleichzeitig existieren kann, durch Akkumulation, ohne klare Hierarchien und durch assoziative Verknüpfungen, die oft zu Zerstreuung führen.”

Mehrzweck-Theater / Lacaton & Vassal. Bild: Courtesy of Philippe Ruault (oben); FRAC Dunkerque / Lacaton & Vassal. Bild: Courtesy of Lacaton & Vassal (unten)

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Mehrzweck-Theater / Lacaton & Vassal. Bild: Courtesy of Philippe Ruault (oben); FRAC Dunkerque / Lacaton & Vassal. Bild: Courtesy of Lacaton & Vassal (unten)

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“Nutzen Sie das Bestehende, halten Sie das Ganze einfach, beziehen Sie die Natur mit ein und ehren Sie Licht, Freiheit und Anmut.“ Die Auszeichnung des Büros mit dem Pritzker Preis ist Anlass, über die Rolle der Architektur heute nachzudenken. Für Anne Lacaton ist “jede Architektur auch politisch. Als Architekten dürfen wir nicht zwischen Projekten für die Reichen und Projekten für die Armen unterscheiden. Das ist inakzeptabel.“ Ein angesichts einer bereits überlasteten Umwelt effizienter Umgang mit Ressourcen, ehrliches Design, die Verwendung einfacher, preiswerter Materialien auf bestmögliche Weise und die Vorstellung, dass das Gebäude vor allem ein Rahmen sein kann, um weniger auf sich als auf seinen Inhalt aufmerksam zu machen, sind interessante Gegenpositionen zu denen der immer seltener kritisierten “Starchitekten”. Auch symbolisch regen die transluzenten Pläne des Büros zum Nachdenken an. Wenn die Welt im letzten Jahr von einem unsichtbaren Feind heimgesucht wurde, so hat uns das auch gezeigt, dass unsere Gewissheiten über die Zukunft keineswegs klar, sondern trübe sind.

Text: Eduardo Souza

Note
[1] Wisnik, Guilherme. Dentro do nevoeiro: arquitetura, arte e tecnologia contemporânea. São Paulo: Ubu Editora, 2018 / 352 S.