Brasília: Eine Stadt in Bewegung (Teil II)
Text von Bärbel Högner
16.05.17
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Das öffentliche Leben in Brasília ist trotz des urbanen Reissbrettcharakters bunt. Es gibt erstmalig eine Brasília-Generation. Menschen die in der neuen, auf Piloten gebauten Stadt geboren wurden, sich mit ihr identifizieren und das Gefühl haben, es sei ihre Stadt.
21. 4. 2016: Die Stadt ist still, denn heute ist ein Nationalfeiertag in Brasilien. Gewürdigt wird der Dragonerleutnant genannt Triadentes, der als Anführer einer Gruppe von Freiheitskämpfern am 21. 4. 1792 hingerichtet wurde. Zugleich ist es der Jahrestag von Brasília, denn JK hatte die Einweihung genau auf diesen Termin gelegt, weil der revolutionäre Zusammenschluss 1789 erstmals die Forderung nach einer Hauptstadtverlegung in das Landesinnere erhob. Im nach JKs Frau benannten Parque da Cidade Dona Sa-rah Kubitschek, der mit 4,2 km² Fläche als Lateinamerikas grösster Stadtpark gilt und auch die Liste der lokalen Superlative bereichert, findet ein Megapicknick statt. Üblicherweise hält man sich im «grünen Herzen» Brasílias zum Spazieren, Joggen, Walken, Fahrradfahren oder Skaten auf. Heute wird indes in grossem Stil gegrillt, geplaudert, getanzt, geruht. Vor vier Jah-ren organisierte die Initiative «Picnik» zum ersten Mal ein Event, um die Bevölkerung und die Kreativwirtschaft Brasílias zu vereinen. Digitale Vernetzung, analoges Treffen – so das Credo: miteinander sprechen, lachen, fühlen. Eine wahrhaft bunte Mischung an Menschen jeglichen Alters von bürgerlich bis flippig einschliesslich Gothics und Punks strömt in den Park. Dicht an dicht bieten improvisierte Stände Kulinarisches: Fleischspiesse und vegane Sandwichs, Kokosnüsse und Caipirinhas. Es gibt Yogasessions und Zirkusperformances. Lokale Künstler vermarkten ihre Produkte «made in Brasília» im sogenannten BSB-Style. Eine Gegenwelt zur vermeintlichen Anonymität des schematischen Stadtlayouts ist präsent, und eine These, die ich vor Reiseantritt hörte, bestätigt sich: Es gibt jetzt eine Brasília-Generation – Menschen, die in der neuen Stadt geboren wurden, die sich mit ihr identifizieren und das Gefühl haben, es sei «ihre» Stadt.
Meiner Begleiterin Andreía da Gomes wird der Tumult im Park allerdings schnell zu viel. Dass an diesem Abend noch etliche Bands auftreten würden, entspreche dem Bild Brasílias als «Capital of Rock» des Landes, erzählt die 40 jäh-rige Juristin, die wie viele hier im Staats-dienst tätig ist. Sie selbst sucht den Park lieber am frühen Morgen auf, wenn sich eine Gruppe zum Tai-Chi trifft. Danach lasse sich die Arbeit in der Verwaltung besser aushalten. Bevor es richtig laut wird, schlägt sie vor, noch eine andere Seite der Stadt anzuschauen. Wir cruisen zum gegenüberliegenden Ufer des Plano Piloto. Langsam wird es dunkel und die Stimmung romantisch. An des Sees Promenade zieht sich eine scheinbar endlose Lichterkette entlang. 80 km Uferlänge hat der Paranoá. Auf den besten Grundstücken befinden sich Botschaften, private Sportclubs und Bungalows der Elite.
Picknick-Event im Parque da Cidade Dona Sarah Kubitschek
Picknick-Event im Parque da Cidade Dona Sarah Kubitschek
×Andreía bringt mich am anderen Morgen zunächst zu einem kleinen Schatz der Stadtarchitektur: Brasilías erster Kirche, genannt «Igrejinha», was Kirchlein bedeutet. Das Gotteshaus liegt zwischen zwei der ältesten Quartiere: SQS 307 und SQS 308. Es ist auch ein Entwurf von Oscar Niemeyer und mit Kacheln versehen, die Athos Bulcão entwarf. Die Türen des zeltartig geformten Baus stehen offen, davor parkt eine Gruppe Harley-Davidson-Motorräder. Drinnen geben sich gerade einer der Fahrer und seine Braut ihr Jawort.
Die Kirche steht im für soziale Institutionen designierten Grünstreifen zwischen zwei Superquadras. Jeder dieser Wohnbereiche misst 300 x 300 m, vier Superquadras sind als Nachbarschaftseinheit zusammengefasst: gemeinsame Einfahrten von den Hauptverkehrsachsen, gemeinsame Einkaufsstrassen und gemeinsame öffentliche Räume. Das Layout des Flächennutzungsplans legte je Superquadra elf Wohnblöcke mit sechs Stockwerken auf Piloten fest. So scheint die Baumasse zu schweben, eine fliessende Fortbewegung als Fussgänger möglich. Wir wandern zwischen den Häusern umher und unter ihnen durch. Man spürt Lúcio Costas Intention, im Kontrast zum dynamischen Verkehrsbetrieb grüne Oasen als Ruhepole und Rückzugsorte für den Wohnbereich zu schaffen.
An vielen der Häuser wurde ein Upgrade vorgenommen. Die Säulen sind umbaut, dekoriert oder mit Marmor gefliest – zarte Versuche, auf individuelle Weise den strengen Normen der Wohnbereiche etwas entgegenzusetzen. Gleichwohl ist hier noch allerhand im Originalzustand zu sehen: Zur Struktur der Areale gehörten beispielsweise eine Gartengestaltung des Landschaftsarchitekten Roberto Burle Marx oder Kacheldekors an den Häusern, für die Athos Bulcão zuständig war. Alles wirkt sehr gepflegt und geordnet. Die Hecken sind akkurat geschnitten, die Rasensprenger laufen, Hausmeister wischen die Böden zwischen den Piloten. Andreía meint, wer in den Plano Piloto neu einziehe, treffe auf einen für Brasilien ungewöhnlichen Kosmos. Die landesübliche Kultur des Miteinanders – laut Klischee Partys, Grillen und laute Musik – sei hier nicht gegeben: «Die Leute kamen aus ganz Brasilien, jeder aus einer anderen Gegend. Sozial gab es keinen Zusammenhalt.» Brasília sei eine Stadt von Individuen.
Stadtkonzept: In jeder aus vier Superquadras bestehenden Nachbar- schaftseinheit bendet sich eine Schule
Stadtkonzept: In jeder aus vier Superquadras bestehenden Nachbar- schaftseinheit bendet sich eine Schule
×Wohnblocks in Super- quadras: «Cobogó»-Wandverkleidung sowie Kacheln von Athos Bulcão
Wohnblocks in Super- quadras: «Cobogó»-Wandverkleidung sowie Kacheln von Athos Bulcão
×Modizierte Piloten und Orientierungspanel. Die elf Einheiten sind stets mit A bis K gekennzeichnet
Modizierte Piloten und Orientierungspanel. Die elf Einheiten sind stets mit A bis K gekennzeichnet
×In Brasília erwirbt man das Recht, auf Piloten zu bauen und eine Tief-garage anzulegen. Das Grundstück selbst bleibt öffentlicher Freiraum
In Brasília erwirbt man das Recht, auf Piloten zu bauen und eine Tief-garage anzulegen. Das Grundstück selbst bleibt öffentlicher Freiraum
×Cláudio José Pinheiro Villar de Queiroz ist Architekturprofessor an der Universität Brasílias. Er stellt sich als «Niemeyer-ist» vor. Über zehn Jahre arbeitete er als Assistent des Meisters bei dessen Projekten in Algerien. Für zwei Tage wird er mein «Architectural Guide» sein. Der erste Anlaufpunkt ist das Urbild des Grundrissesnder Kreuzungspunkt der beiden Hauptverkehrsachsen. Er parkt auf dem Deck des Busbahnhofs. Wir lehnen an ein Geländer, unter uns brausen Autos durch, im warmen Sonnenlicht erklärt er Lúcio Costas Vorstellung vom Gartenstadtcharakter für Brasília. Der Stadtplaner definierte vier Flächennutzungsbereiche: die Monumentalachse, den Wohnbereich und an deren Schnittstelle das Zentrum, gemeinsam eingebettet in das «ländlich offen» verbleibende Stadtgebiet.
Die räumliche Gliederung scheint An-klängen der vier Funktionen der Char-ta von Athen zu entsprechen. Es ist also nicht verwunderlich, dass die langjährige und übliche Kritik an Le Corbusiers Masterplan für Chandigarh auch bezüglich Brasília zu hören war und ist. Cláudio ist damit bestens vertraut: Die Stadtgestaltung sei zu monoton, die Architektur zu monströs. Das Zusammenleben im Plano Piloto zu distanziert. Das Projekt eine Utopie. Einkommensschwache Bevölkerungsschichten wurden nicht berücksichtigt, soziale Segregation entstand. Als Meister im Capoeira, der gerne auf Parallelen in der Praxis der Architektur und der brasilianische Kampfkunst verweist – denn in beiden Disziplinen werde tänzerisch und spielerisch gekämpft – schaut mich Cláudio herausfordernd an. Ob es nicht wichtiger sei, auf das zu blicken, was erreicht worden ist? «Allein diese Leistung: in nur drei Jahren eine Hauptstadt hinstellen – und das in einer Bananenrepublik! Und dann noch Weltkulturerbe!» In der Stadt sei metaphorisch gesprochen noch «kein Moos gewachsen». Man müsse Geduld mit Brasília haben.
Als Nächstes liegt ihm daran, am Obersten Gerichtshof über die besondere Form der Stützpfeiler zu sprechen. Die filigranen, geschwungenen Elemente würden zwei indigene Gegenstände repräsentieren. Sie seien also modern und traditionell zugleich. Er sieht Querbezüge zu kleinen Segelbooten oder auch Hängematten. Überhaupt, der ganze Stadtplan – immer wieder sei zu hören, es handle sich formal um ein Flugzeug. Welch ein Mythos! Lúcio Costa habe manchmal von einer Libelle gesprochen. Er selbst neige dazu, die Eixo Rodoviário auch als Hängematte zu interpretieren. Diese habe starken Symbolcharakter, denn: «In einer Hängematte wird geboren, geschlafen und gestorben.» Wir fahren weiter zum Wohnsitz der Präsidentin. Der Palácio da Alvorada liegt fast am Seeufer. Ihre Tage in dem Bau mit ebenfalls eleganten, segelartigen Stützen sind gezählt. Cláudios Gesichtsausdruck wird traurig. Die Hetze gegen Dilma Rousseff missfällt ihm. Er wünscht sich, dass der Amtsenthebung nicht stattgegeben wird.
Sicher, sie habe Fehler gemacht. Aber nicht in dem Masse, wie ihr vorgeworfen werde.
Universität: Oscar Niemeyer entwarf einen lang gestreckten Bau mit «Prefab» -Elementen (oben und unten)
Universität: Oscar Niemeyer entwarf einen lang gestreckten Bau mit «Prefab» -Elementen (oben und unten)
×Der Architekt wohnt unweit der Universität. Natürlich in einem Superquadra. Hier sprechen wir über den Werdegang des Wohnkonzepts, das zahlreichen Auflagen unterliegt, um den Stadtcharakter und damit den Weltkulturerbestatus zu erhalten. Dennoch fand im Laufe der Zeit eine Anpassung der Apartmentblöcke an gewisse Bedürfnisse statt. Erst wurde erlaubt, die Wohnungsgrundrisse um Balkone zu erweitern. Dann durften diese verglast werden, um ein Extrazimmer zu gewinnen. Im Plano Piloto ist noch Platz, um weitere Apartmenthäuser zu bauen. Neuerdings können sich auch deren kurzen Seiten «nach aussen stülpen». Im lokalen Sprachgebrauch nennt sich die Vorgehensweise «invasão aerea» (Vordringen in die Luft).
Das Verfahren ist auch in den Einkaufsstrassen zu sehen. Vor allem gastronomische Betriebe widersetzen sich dem Regelwerk und besetzen öffentlichen Raum. Eigentlich sei der Kick im Wohnbereich in Brasília die Ruhe, meint Cláudio. Doch zunehmend sei ein Generationswechsel zu spüren: Die Jüngeren würden alte Brasíliaeigene Gewohnheiten über Bord werfen und beispielsweise eine Bar eröffnen, dort bis spät in die Nacht Cocktails mixen sowie laut Musik abspielen. Unter den Studenten sei derzeit die Lektüre von Henri Lefebvre und David Harvey angesagt. Sicher würde ich den Diskurs kennen: Sie erörtern «das Recht auf die Stadt». Eine junge Frau fährt mit ihrem Fahrrad vorbei und parkt es zwischen den Piloten eines Wohnblocks. Cláudio kneift mich in den Arm: «Siehst du? Etwas ist in Bewegung. Sie ist cool. Und jetzt ist sie modern.»
Text und Fotos: Bärbel Högner