Bringt Licht ins Gedicht: Hind Rabii

Die belgische Industriedesignerin Hind Rabii findet ihre Inspiration in der Mode, in der Kunst und in der Natur. Auf den ersten Blick überraschen diese Einflüsse für Industriedesign vielleicht, aber Rabii ist schliesslich keine gewöhnliche Leuchtendesignerin. Zwar hat sie Wirtschaftsingenieurwesen am Institut Supérieur Industriel in Verviers im Osten Belgiens studiert, aber sie ist weit von einer verklärten Perspektive auf Technologie entfernt.

„Wir integrieren Technologie stets in unsere Kreationen, und zwar als Teil des Designprozesses, nicht bloss zum Selbstzweck,” betont sie. „Traditionell hat das Leuchtendesign einen starken Fokus auf Technologie gelegt. Das Resultat war eine Zurschaustellung dieser Technizität und Distanz zwischen Produkt und Mensch,“ bekräftigt die Querdenkerin unter den Designern. Ihrer Ansicht nach hat die Fetischisierung von Technologie und Funktionalismus die poetischen, emotionalen Aspekte im Design verdrängt. „Unsere Freunde aus dem Ingenieurwesen haben Lösungen entwickelt, die jegliche Fantasie vermissen lassen und wir haben sie dankend übernommen. Da frage ich mich: wo zum Teufel bleibt die Poesie?“

Rabii wurde in Rabat, Marokko, geboren und gründete ihr Studio 1997 in Stembert, einem kleinen Ort in der Nähe von Verviers mit der Mission, die poetische Qualität von Beleuchtung wiederzuentdecken und zu zelebrieren. Für ihre Kollektionen, bestehend aus Decken-, Tisch-, Steh- und Hängeleuchten verwendet Sie ein breites Spektrum an Materialien.

Viele ihrer Stücke sind in Kollaboration mit Luc Vincent, dem ehemaligen Designchef in den Architekturbüros von Jean Nouvel und Ricardo Bofil, entstanden. Bel d’I, ihre höhenverstellbare und äusserst vielseitig einsetzbare Hängeleuchte besticht durch transparentes oder opakes Glas und ein Banddekor aus Kupfer, Chrom oder poppigen Farben; bei manchen findet man zudem kleinere Lampenschirme aus Plisseestoffen. Die Wandleuchten sind in ungewöhnlichen Formen und Farben erhältlich. Dazu gehört beispielsweise die biomorphe Leuchte Ya Ya, deren geäderte Oberfläche an Stein erinnert. Ihre anderen Wandlampen formen sich zu Clustern aus glänzenden, metallisch reflektierenden Blasen oder sehen dank ihrer zylindrischen, konischen oder rechteckigen Schirme in kräftigen Farben wie Eisvogelblau, Kupfer, Bronze oder Gold noch verhältnismässig traditionell aus.

Mit ungewöhnlichen Formen und auffälligem Materialmix pfeift sie mit ihren Tischleuchten auf Konventionen: Belle d’I für den Tisch präsentiert sich stolz auf einem Sockel aus belgischem oder Carraramarmor, während die Ice Lampe Klarglas mit Kupfer und Blattgold kombiniert. Unberechenbar sind die Formen: mal sphärisch, mal an eine überdimensionale Glühbirnen erinnernd, dann wieder, wie bei Anna Belle mit ihrem gedrechselten Holzfuss und nüchtern minimalistischem Schirm in Weiss, dem Archetypus einer Tischleuchte entsprechend.

Pro Jahr entwirft Hind Rabii bis zu vier oder fünf neue Designs. Manchmal ergänzt sie bestehende Kollektionen um neue Stücke, damit sie aktuell bleiben. Die Produktion der Designs dauert zwischen „24 Stunden und 24 Monaten. Die Zeit zwischen der ersten Idee und dem Prototypen wird durch meinen Mann Michael Orban drastisch reduziert. Er ist gelernter Ingenieur und leitet die Firma mit mir zusammen,“ sagt Rabii. „Er versteht sehr gut, worauf ich hinaus will und findet intelligente, technische Lösungen für meine Ideen.“ Die fertigen Designobjekte – von denen 80% in den Export gehen – schmücken Privathaushalte, Hotels und Restaurants.

Das schönste am Beleuchten ist für Rabii das Licht selbst, dessen atmosphärische, nuancierte Charakteristik, aber auch das dramatische Spiel von Licht und Schatten. „Der Kontrast von Licht und Schatten hat mich schon immer inspiriert,“ sagt sie enthusiastisch. „Es gibt heutzutage zwei Herangehensweisen in der Architektur und im Design,“ fügt sie hinzu. „Es gibt Leute, die den Ball flach halten und Kompromisse zugunsten von Neutralität machen. Sie negieren Kontraste und verstecken so die moderne Lebensrealität. Ich sehe die Welt lieber wie sie ist und betone Schatten, Licht und Farbigkeit, um beim Betrachter Reaktionen wie Trauer und Freude hervorzurufen.“

Sie betont, dass Beleuchtung eine Erweiterung des natürlich vorkommenden Lichts in seinen unzähligen Formen ist: „Beleuchtungseigenschaften werden seit eh und je von der Sonne und dem Mond bestimmt. In Belgien mangelt es an kräftigem, natürlichem Licht; das versuche ich zu kompensieren. Meine Kreationen entstehen häufig aus dem Gefühl heraus, dass etwas fehlt.“ Und in der Tat glaubt Rabii, dass ihre Doppelidentität als Marokkanerin in Nordeuropa ihr oft zugute kommt: „Das gibt mir eine einzigartige, seltene Kreativität. Meine Emotionen halten sich immer die Waage mit meiner Offenheit, meiner Liebe zur Moderne und dem Willen, unvoreingenommen an Dinge heranzugehen.“

Sie fühlt aber auch eine tiefe Verbundenheit mit Stembert und seiner ländlichen Umgebung. „Hier in der Natur, abseits vom Trubel der Grossstadt, fühle ich eine Ausgeglichenheit, die es mir ermöglicht Hind Rabii ganz entspannt weiterzuentwickeln. Durch die Zusammenarbeit mit Ortsansässigen ist der Fertigungsprozess gut kontrollierbar. Ich habe das gerne im Blick, auch wenn manche Komponenten in anderen Teilen Europas hergestellt werden – das Glas zum Beispiel kommt aus Italien und die Stahlkomponenten liefern andere belgische Firmen.“

Enorm breit gefächert und facettenreich sind ihre Einflüsse. Diese reichen von Kultur – vor allem Kunst und Mode – bis hin zur Natur. Fashionistas wie Isabel Marant, Azzedine Alaïa, Prada, Balenciaga und Jil Sander, sowie Künstler von Turner über Matisse, Edward Hopper bis hin zu Mark Rothko und David Hockney bilden „einen Stilmix aus Klassik und Rock ’n’ Roll“, aus dem sie ihre Ideen schöpft. Auch die von der Natur inspirierte Ausstellung „Becoming Soil“ des Schweizer Künstlers Ugo Rondinone aus dem Jahr 2016, die in der Galerie Carré d’Art in Nimes zu sehen war, hat sie zutiefst bewegt.

Generell sieht Rabii in ihrem Individualismus und der flexiblen, nach vorne gerichteten Mentalität den Garant für das zukünftige Wachstum ihres Unternehmens: „Viele Marktführer aus den 1950er und 60er Jahren haben den Absprung verpasst. Aber Hind Rabii ist dazu bestimmt eine der führenden Marken für moderne Beleuchtung zu werden, weil wir einen ganz einzigartigen, persönlichen Weg eingeschlagen haben.“

© Architonic