Neu aufgelegt
Text von Dominic Lutyens
London, Großbritannien
16.12.14
In der Welt des Einzelhandels gibt es wohl kaum einen Sektor, in dem die Verkaufsräume einem so tief greifenden Wandel ausgesetzt sind wie im Buchhandel. Früher einmal lag der Reiz von Buchhandlungen in ihrem altmodischen, verstaubten Ambiente, labyrinthisch verwinkelten Grundrissen, dem leicht muffigen Geruch nach altem Papier und oftmals exzentrisch-belesenen Inhabern. Als nur eines von vielen Beispielen sei hier der Shakespeare and Company Bookshop in Paris erwähnt, der im Jahre 1919 von Sylvia Beach gegründet wurde. Spult man im Schnelldurchlauf in die 1990er Jahre vor, wurden aus den verstaubten Bücherhöhlen von einst Megastores mit Cafés und Lesesesseln, in denen Kunden stundenlang schmökern und dabei Cappuccinos trinken konnten.
Mit den geschossdurchbrechenden Öffnungen der Buchhandlung Livraria da Vila in São Paulo antizipierte Isay Weinfeld den Trend für eine transparentere Gestaltung von Buchhandlungen, der mittlerweile zur Regel geworden ist
Mit den geschossdurchbrechenden Öffnungen der Buchhandlung Livraria da Vila in São Paulo antizipierte Isay Weinfeld den Trend für eine transparentere Gestaltung von Buchhandlungen, der mittlerweile zur Regel geworden ist
×Seit damals haben zahllose Buchhandlungen schliessen müssen, weil die Onlinekonkurrenz, ein gnadenloser Preiskampf und E-Books den Markt bestimmten. Doch Buchhändler sind weit davon entfernt, die Waffen zu strecken. Stattdessen vergeben sie Gestaltungsaufträge an avantgardistische Architekten, unter deren Händen sich die Verkaufsräume in Tempel zeitgenössischer Ästhetik verwandeln. Im vergangenen Jahr eröffnete der Buchhändlerriese Foyles in London einen neuen Flagshipstore, der vom Büro Lifschutz Davidson Sandilands gestaltet wurde. Hier präsentiert sich mit einem lichtdurchfluteten, weitläufigen und leicht zu überschauenden Raumkonzept quasi die Antithese zur Buchhandlung alten Stils.
Innenansicht der in einem recht schmalen, ursprünglich zweigeschossigen Gebäude untergebrachten Buchhandlung. Die oberen Ebenen haben keine Fenster, sondern Oberlichter, durch die Tageslicht einfällt
Innenansicht der in einem recht schmalen, ursprünglich zweigeschossigen Gebäude untergebrachten Buchhandlung. Die oberen Ebenen haben keine Fenster, sondern Oberlichter, durch die Tageslicht einfällt
×Eine ähnliche Tendenz lässt sich vielerorts in Brasilien feststellen, einem, den grossflächigen und geradezu ultra-modernen Buchhandlungen nach zufolge, äusserst bibliophilen Land. Buchläden schiessen schon seit Jahren wie Pilze aus dem Boden. Aus dieser Vielzahl sticht besonders die Buchhandlung Livraria da Vila in São Paulo hervor, die im Jahre 2007 vom brasilianischen Architekt Isay Weinfeld designt wurde. Ihm gelingt mit diesem Projekt ein stilistischer Brückenschlag zwischen alter Tradition und zeitgenössischer Interpretation. Zwar ist der vorherrschende Designtrend im Buchhandel derzeit ein nahezu galerieartiges Ambiente mit weissen Wänden und honigfarbenem Holz, aufgefrischt durch gelegentliche kräftige Farbakzente, doch die Livraria de Vila greift zu stärkeren Kontrasten: Die Regale sind entweder aus weissem oder zigarrenbraunem Holz, das deutlich das Flair eines Herrenclubs zitiert. Allerdings antizipiert hier das fliessende Raumkonzept den aufkommenden Trend luftigerer Raumgestaltung.
Ein sinnfälliges Gestaltungselement am Eingang: sich um eine senkrechte Mittelachse drehende Regale, die an das Aufschlagen eines Buches erinnern
Ein sinnfälliges Gestaltungselement am Eingang: sich um eine senkrechte Mittelachse drehende Regale, die an das Aufschlagen eines Buches erinnern
×Etwas moderner und schnörkelloser ist die Livraria Cultura in São Paulo, deren 2500 Quadratmeter grosse Verkaufsfläche im Jahre 2013 fertig gestellt wurde. Die Designer Marcio Kogan, Diana Radomysler, Luciana Antunes, Marcio Tanaka und Mariana Ruzante von Studio MK27 haben hier eine Buchhandlung konzipiert, die neben Bücherregalen auch eine Ausstellungsfläche, einen Konferenzbereich und ein Gartencafé integriert, – sämtlich Orte, die man nicht nur zum Schmökern aufsucht, sondern auch zum Sehen und Gesehen werden. Das Konzept ruft durch den bis zum Dach offenen Raum mit einer ins Obergeschoss führenden Rolltreppe und durch die 21 Meter breite Freitreppe aus Holz, auf der sich Kunden zum Lesen oder für ein Schwätzchen niederlassen können, Assoziationen zu einem gehobenen Kaufhaus oder einer eleganten Flughafenlounge wach. Das lichtdurchflutete, transparente Ambiente wird durch die weissen Regale mit eingebauten LEDs, weisse laminierte Oberflächen und die Treppenhandläufe aus Glas noch verstärkt.
Das Obergeschoss der vom Studio MK27 konzipierten Livraria Cultura in São Paulo. Der verantwortliche Architekt Marcio Kogan beschreibt die Buchhandlung, in der auch kulturelle Veranstaltungen stattfinden, als die „Buchhandlung des 21. Jahrhunderts“
Das Obergeschoss der vom Studio MK27 konzipierten Livraria Cultura in São Paulo. Der verantwortliche Architekt Marcio Kogan beschreibt die Buchhandlung, in der auch kulturelle Veranstaltungen stattfinden, als die „Buchhandlung des 21. Jahrhunderts“
×In der Livraria Cultura verläuft entlang der Wände des Obergeschosses eine Zwischenebene, die Zugriff auf die Bücher in den obersten Regalen ermöglicht
In der Livraria Cultura verläuft entlang der Wände des Obergeschosses eine Zwischenebene, die Zugriff auf die Bücher in den obersten Regalen ermöglicht
×An den äusseren Enden der breiten Sitzreihen der Holzfreitreppe wurden weisse Stufen mit Tritthöhe einer normalen Treppe integriert
An den äusseren Enden der breiten Sitzreihen der Holzfreitreppe wurden weisse Stufen mit Tritthöhe einer normalen Treppe integriert
×In seinen Hauptmerkmalen ähnelt der aus dem Jahr 2013 stammende Entwurf von Arthur Casas für den Flagshipstore der Buchhandlung Saraiva in Rio de Janeiro der oben beschriebenen Livraria Cultura. Auch hier finden sich fliessende Räume, Lesesessel zum Schmökern und eine schimmernde Rolltreppe. Die Inneneinrichtung bleibt mit ihren hellen Wänden und Regalen aus Holz relativ neutral – wäre da nicht ein besonderes Gestaltungselement: In den oberen Regalen sind die Bücher nicht nach Kategorien, sondern nach Farben geordnet einsortiert, wodurch sie dank des Regenbogeneffekts zum unerwartet „poppigen“ Blickfang werden.
In den Regalen des von Arthur Casas entworfenen Flagshipstores der Buchhandelskette Saraiva in Rio de Janeiro werden Bücher statt nach Kategorien nach Farben sortiert, was einen dekorativen Regenbogeneffekt erzeugt
In den Regalen des von Arthur Casas entworfenen Flagshipstores der Buchhandelskette Saraiva in Rio de Janeiro werden Bücher statt nach Kategorien nach Farben sortiert, was einen dekorativen Regenbogeneffekt erzeugt
×Der darunter liegende Bereich mit Möbeln von Sergio Rodrigues, ruft den Eindruck eines öffentlichen Platzes hervor
Der darunter liegende Bereich mit Möbeln von Sergio Rodrigues, ruft den Eindruck eines öffentlichen Platzes hervor
×Im Untergeschoss ist die Kinderbuchabteilung untergebracht. Eine mit vielfarbigen Streifen bemalte Rampe zitiert augenzwinkernd den Bücherregenbogen aus dem Obergeschoss
Im Untergeschoss ist die Kinderbuchabteilung untergebracht. Eine mit vielfarbigen Streifen bemalte Rampe zitiert augenzwinkernd den Bücherregenbogen aus dem Obergeschoss
×Kurz, Buchhandlungen in allen Teilen der Welt schlagen in Sachen Design ein neues Kapitel auf, um im Kampf gegen die Konkurrenz aus dem Internet bestehen zu können. Und das gelingt in unserer heutigen Zeit nur, wenn sie Räume schaffen, die Gegenwart atmen, einladend und praktisch sind und in denen man Bücher mühelos findet.