Die Wissenschaft des Akustikdesigns macht Hörsaalarchitektur bemerkenswert
Text von James Wormald
30.11.22
Ob gross oder klein, geschlossen oder unter freiem Himmel – die hier vorgestellten Konzertsäle bieten dem Publikum eine einladende Klangwelt mit akustischer Architektur und Oberflächengestaltung.
Der Konzert- und Übungsraum des Musikzentrums Haus Marteau in Lichtenberg ist mit Granitsplittern ausgekleidet – ein Hinweis auf die Bergbauvergangenheit der Gegend. Foto: Eduard Beierle
Der Konzert- und Übungsraum des Musikzentrums Haus Marteau in Lichtenberg ist mit Granitsplittern ausgekleidet – ein Hinweis auf die Bergbauvergangenheit der Gegend. Foto: Eduard Beierle
×Eine meiner ersten Erfahrungen mit einem grossen Konzertsaal machte ich als Kind, als ich dem Hallé-Orchester in der neu eröffneten Bridgewater Hall in Manchester, Grossbritannien, zuschaute. Ich sage „zuschauen“, aber als ich im warmen, gemütlichen dritten Rang sass, scheinbar meilenweit über der Bühne oder sonst wo, schloss ich die Augen und liess zu, dass mich die wohldefinierten Arrangements völlig in Beschlag nahmen.
Die Bridgewater Hall wurde akribisch entworfen, um sowohl den Hörgenuss als auch die Publikumsgrösse zu erweitern, und kombiniert mit ihrer Schuhkarton-Form und der Positionierung der Sitze im Weinberg zwei gängige Anordnungsarten für Auditorien. Um das akustische Design vor Umgebungslärm und Vibrationen zu schützen, wird die Stahlbetonkonstruktion auf fast 300 riesigen Federn balanciert.
Ich schloss die Augen und liess zu, dass mich die wohldefinierten Arrangements völlig in Beschlag nahmen
Anstatt sich vom Publikumsverkehr abzuschirmen (sowohl architektonisch wie die Bridgewater Hall als auch kulturell wie viele traditionelle Konzertsäle), sind diese gemeinschaftsorientierten Beispiele offenere und willkommenere Antworten auf die Gestaltung von Auditorien.
Der mit Beton verkleidete Konzertsaal des Amare (oben), das Tanztheater mit beweglichen schwarzen Wänden (Mitte) und das riesige mehrstöckige Foyer mit einer perforierten goldfarbenen Decke (unten). Fotos: Katja Effting
Der mit Beton verkleidete Konzertsaal des Amare (oben), das Tanztheater mit beweglichen schwarzen Wänden (Mitte) und das riesige mehrstöckige Foyer mit einer perforierten goldfarbenen Decke (unten). Fotos: Katja Effting
×Amare Home of the Performing Arts in Den Haag, Niederlande, von NOAHH
Das Amare wurde so konzipiert, dass es alle Menschen einlädt und mit ihnen seinen „multifunktionalen, lebendigen kulturellen und sozialen Raum mit Strassen, Gassen und Plätzen zwischen grossen Gebäuden“ teilt. Wie die Architekten NOAHH erklären, ist das Amare „die Seele des kulturellen Herzens von Den Haag.“
Um sich vor dem aufgeregten Trubel eines belebten öffentlichen Foyers zu schützen, verfügt jeder der vier grossen Säle des Gebäudes über unterschiedliche, hoch spezifizierte, aber auch anpassungsfähige akustische Eigenschaften. Das Tanztheater beispielsweise, in dem Tanz-, Sprech- und Opernaufführungen stattfinden, ist mit beweglichen Wandpaneelen in Anthrazitschwarz ausgestattet, um die unterschiedlichen akustischen Eigenschaften der Aufführungen zu berücksichtigen. Der Konzertsaal hingegen ist mit harten Betonwänden ausgestattet, die die Instrumente im Schuhkarton wiedergeben, und mit Schiebepaneelen, um sie zu regulieren.
Die 33 Granitsplitter im Haus Marteau erzählen die Geschichte einer musikalischen Explosion, die den ästhetisch anregenden und zugleich akustisch perfekten Kompaktraum bildet. Fotos: Edward Beierle
Die 33 Granitsplitter im Haus Marteau erzählen die Geschichte einer musikalischen Explosion, die den ästhetisch anregenden und zugleich akustisch perfekten Kompaktraum bildet. Fotos: Edward Beierle
×Konzertsaal der Villa Marteau in Lichtenberg, Deutschland, von Peter Haimerl Archiektur
Mit seiner glatten Oberfläche sowie seiner hohen Dichte und Masse ist Beton ein perfektes, oft verwendetes Material für die Oberflächen von Innenräumen. Aufgrund der geringeren Grösse dieses intimen, 89 Plätze fassenden unterirdischen Konzert- und Probesaals im Musikzentrum Haus Marteau in Lichtenberg konnte jedoch der schwerere, grafisch intensivere Naturstein Granit verwendet werden.
„Der Raum wird von 33 grossen Granitsplittern geformt, die den Schall lenken und für eine perfekte Akustik sorgen“, erklärt das Architekturbüro Peter Haimerl Architektur. Die bis zu neun Tonnen schweren Granitsplitter – inspiriert von den Bergbautraditionen der Region – sind an einer Stahlunterkonstruktion befestigt, wobei der gesamte höhlenartige Hohlraum vom Haupthaus abgetrennt und über einen langen, schrägen unterirdischen Gang erschlossen wird. Die aufgelöste Anordnung der Oberflächen bietet auch die Möglichkeit, attraktive Beleuchtungselemente in den Falten zu verstecken, ohne die Klanglandschaft zu beeinträchtigen.
Umgeben von einer felsigen Naturlandschaft fügt sich die Chapel of Sound von OPEN Architecture mit ihren grossen Öffnungen perfekt in die Musik ein. Fotos: Jonathan Leijonhufvud (oben, unten), Runzi Zhu (Mitte)
Umgeben von einer felsigen Naturlandschaft fügt sich die Chapel of Sound von OPEN Architecture mit ihren grossen Öffnungen perfekt in die Musik ein. Fotos: Jonathan Leijonhufvud (oben, unten), Runzi Zhu (Mitte)
×Kapelle des Klangs in Chengde, China, von OPEN Architecture
Wenn harter Fels die perfekte akustische Umgebung bietet, ist es eine glatte Entscheidung, ein kleines Auditorium unterirdisch zu bauen, wo es viel davon gibt und unerwünschte Aussengeräusche auf natürliche Weise gedämpft werden. Was aber, wenn gerade die Aussengeräusche erwünscht sind? Die visuell spannende Antwort ist die Kapelle des Klangs von OPEN Architecture.
Zwei Autostunden ausserhalb von Peking wird die Aussenhülle des Bauwerks von einem Umgebungssoundtrack der Bergregion begleitet. „Die Architekten wollten nicht nur die ungewohnte und tief berührende Erfahrung von Musik in der Wiege der Natur einfangen, sondern auch, dass die Menschen einfach zur Ruhe kommen und dem Klang der Natur lauschen“, erklären sie. Die aus Schichten von hartem Beton errichtete Struktur umfasst auch sorgfältig platzierte Öffnungen, die Licht und Klang an der perfekten Stelle einlassen und eine offenherzige Antwort auf das Auditoriumsdesign darstellen.
Mežaparks ist eine Open-Air-Bühne, die speziell für das traditionelle lettische 20.000-Stimmen-Chor- und Musikfestival gebaut wurde. Fotos: Ansis Starts (oben, unten), Madara Gritane (Mitte)
Mežaparks ist eine Open-Air-Bühne, die speziell für das traditionelle lettische 20.000-Stimmen-Chor- und Musikfestival gebaut wurde. Fotos: Ansis Starts (oben, unten), Madara Gritane (Mitte)
×Mežaparks Open-Air-Bühne in Riga, Lettland, von Militis Architects + J. Pogas Birojs
Die Mežaparks Open-Air-Bühne sieht aus wie ein modernes Sportstadion – oder zumindest wie ein Teil davon – mit einer makellosen Rasenfläche und einer Tribüne mit ordentlichen Reihen unter einem geschwungenen Dach. Der Veranstaltungsort stellt allerdings alle Annahmen auf wunderbare Weise auf den Kopf, denn die Rasenflächen sind in Wirklichkeit die Stehplätze, während die überdachten Stufen die Bühne bilden.
Der Sound von über 20.000 gut abgestimmten Membranen dröhnt und prallt vom Bühnendach ab wie eine Satellitenschüssel
Das Auditorium wurde eigens für ein lettisches Musikfestival gebaut, das als seltene Gelegenheit für die Letten begann, ihre eigene Sprache in der Öffentlichkeit zu verwenden, während sie unter der zaristischen russischen Herrschaft standen. Die ungewöhnliche Anordnung des Auditoriums nutzt eine andere Art von Auditoriumskonstruktion, die Fächerform, um ein grösseres Publikum in Hörweite der Bühne zu ermöglichen. Das Auditorium ist kein gewöhnlicher Veranstaltungsort, und der Mega-Chor, für den es entworfen und gebaut wurde, gibt keine gewöhnlichen Vorstellungen.
„Die Dachkonstruktion ist als führendes akustisches Element konzipiert“, erklären Mailitis Architects, „wo einzelne Säulen zusammenwachsen und einen räumlich stabilen Rahmen bilden.“ Der Schall von über 20.000 gut abgestimmten Membranen dröhnt nach aussen, prallt vom Bühnendach ab wie von einer Satellitenschüssel und trifft dann auf ein emotionales Publikum von 30.000 Menschen.
© Architonic
Im Architonic Magazine finden Sie weitere Informationen zu den neuesten Produkten, Trends und Praktiken in Architektur und Design.