Der Künstler Erik Steinbrecher und PARK Architekten aus Zürich erschaffen Projekte, in denen die Grenzen zwischen Kunst und Architektur zerfliessen – ein Gewinn in jeder Hinsicht.

Baustelle? Kunst? Architektur? Der Wenzelsplatz in Prag von der temporären Struktur Wenceslas Line aus gesehen. Lüscher und Steinbrecher, Prag Quadriennale 2015; Foto: Tomas Jane

EIN ARCHITEKTONISCH-KÜNSTLERISCHER PAS DE DEUX | Architektur

Baustelle? Kunst? Architektur? Der Wenzelsplatz in Prag von der temporären Struktur Wenceslas Line aus gesehen. Lüscher und Steinbrecher, Prag Quadriennale 2015; Foto: Tomas Jane

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Zahlreiche Architekten arbeiten mit Künstlern zusammen. Jedoch nicht alle von ihnen verstehen diese Zusammenarbeit als integralen Bestandteil ihres Schaffens. Oft wird Kunst zur Architektur addiert, wenn letztere schon längst geplant oder sich sogar schon im Bau befindet. So werden Künstler häufig erst in der Spätphase der Bauplanung zu eher kosmetischen Eingriffen eingeladen. Sie kreieren dann Farbkonzepte für Gebäudefassaden oder Treppenhäuser, Balkon- und Treppenbrüstungen, Sonnenstoren und dergleichen mehr.

Eine radikale und weit über dieses Additive hinausgehende Form der Zusammenarbeit verfolgen beispielsweise der Künstler Erik Steinbrecher und PARK Architekten aus Zürich. Im intensiven Dialog haben sie eine Reihe von (ausgeführten und nicht ausgeführten) Projekten entwickelt, in denen oft nicht mehr klar ersichtlich ist, welcher Beitrag von wem stammt, beziehungsweise wo die Architektur aufhört und die Kunst beginnt.

Steinbrecher ist ein Künstler, der gerne assoziativ vorgeht, den Dingen ihren Lauf lässt. Er arbeitet mit Alltagsgegenständen, die er in seine Werke und Ausstellungen integriert. Auch Abgüsse in Bronze oder Metall von gefundenen Objekten, Nahrungsmitteln und Naturelementen gehören zu seinem skulpturalen Repertoire. In der Zusammenarbeit mit PARK Architekten verzichtet er hingegen meist gänzlich auf eine Materialisierung seiner Ideen und zieht es vor, den architektonischen Prozess als Künstler oder als Co-Autor in beratender Funktion zu begleiten.

Jäger Masche Zaun, 2010 von PARK Architekten und Steinbrecher. Konzipiert, um die Kehrichtverwertungsanlage (KVA) Winterthur zu umzäunen; Bild: PARK Steinbrecher

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Jäger Masche Zaun, 2010 von PARK Architekten und Steinbrecher. Konzipiert, um die Kehrichtverwertungsanlage (KVA) Winterthur zu umzäunen; Bild: PARK Steinbrecher

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Ein eindrückliches Beispiel für eine Co-Autorschaft ist die Eingabe für den Wettbewerb Kehrichtverwertungsanlage (KVA) Winterthur 2010. Die Wettbewerbsaufgabe bestand darin, die KVA-Betriebsfläche sichtdurchlässig einzufassen und das Areal mit dieser Umzäunung gleichzeitig aufzuwerten. Im permanenten Gedankenaustausch und gemeinsamen Entwickeln und Vorantreiben ihrer Idee vom Anfang bis zur Abgabe haben Steinbrecher und PARK Architekten ein Projekt entwickelt, welches nicht nur den expliziten Anforderungen des Wettbewerbs gerecht wurde, sondern gleichzeitig auch unerwartete Dimensionen eröffnete. Ihr Vorschlag bestand aus einem zweifachen, überdimensionierten Zaun, einem Jägerzaun und einem Maschendrahtzaun mit vereinzelten Bäumen in der Zone dazwischen. Diese Idee barg durch ihr vielseitiges, aber auch explizites Assoziationspotenzial (bis hin zur berühmt-berüchtigten Todeszone der Berliner Mauer) so viel Sprengkraft, dass die Jury die Kritik an der Funktionalisierung der Kunst nicht nur erkannte, sondern dem Projekt einen Anerkennungspreis zusprach, um die „zutiefst anschauliche Reflexion darüber, wohin es führen kann, wenn Kunst in die öffentliche Pflicht genommen wird“ zu würdigen. Trotzdem bewilligte die Jury die Ausführung nicht, weil sie der Meinung war, dass „Jäger Masche Zaun“ „sozial schwer durchsetzbar“ gewesen wäre. Was „sozial durchsetzbar“ jedoch in diesem Fall heisst und ob die Bevölkerung mit diesem Entscheid nicht unterschätzt wird, sind Fragen, die eine Diskussion wert wären.

Die starke Identität der Gartenstadt Zelgli in Winterthur (2005-2010) entstand in enger Zusammenarbeit der Architekten mit Künstlern; Foto: Dominique Wehrli

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Die starke Identität der Gartenstadt Zelgli in Winterthur (2005-2010) entstand in enger Zusammenarbeit der Architekten mit Künstlern; Foto: Dominique Wehrli

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In gewissen Fällen kann der künstlerische Input auch als spielerischer Eingriff des Architekten gelesen werden – oder vice versa: In der Gartenstadt Zelgli in Winterthur überdachen und begrenzen Gitter Terrassen und Balkone. Sie wirken wie überdimensionierte, ausklappbare Wäscheständer, aber auch wie Sonnenschutzstrukturen oder Pflanzenrankhilfen. Was niemand sieht: Sie sind dem lange vorausgegangenen intensiven Inspirationspingpong zwischen Künstler und Architekten zu verdanken. Dass die Architekten dieses Gittersystem in bemerkenswerter Konsequenz auch auf die Treppenhausgeländer, Gartentore und Velounterstände ausgeweitet haben, ist ebenfalls Resultat dieser prozesshaften Zusammenarbeit und darüber hinaus ein Indiz für die zentrale Bedeutung dieses Dialogs für das architektonische Ergebnis. So hat das Gittersystem nicht nur begrenzende und schützende Funktion, sondern schafft auch eine optische Verbindung zwischen den privaten Pergolen und den öffentlichen Zonen der Siedlung – und erhält dadurch eine stark identitätsstiftende Qualität für die Siedlung.

Gartenstadt Zelgli Winterthur 2005–2010; Foto: Dominique Wehrli

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Gartenstadt Zelgli Winterthur 2005–2010; Foto: Dominique Wehrli

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Prototyp, Foto: PARK Architekten

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Prototyp, Foto: PARK Architekten

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Neuland in ihrer Zusammenarbeit betraten Erik Steinbrecher und Markus Lüscher von PARK Architekten für die „13th Prague Quadriennal for Performance Design and Space“, die sich seit den 1960er Jahren mit dem Thema Bühnenbild/Szenografie befasst und dieses Jahr auch den Aussenraum bespielte. Zum ersten Mal in ihrer Zusammenarbeit entwickelten Steinbrecher und Lüscher ein Projekt, das nicht einem Gebäude-Auftrag gerecht werden musste, sondern auf eine Themensetzung – „shared space“ – reagierte.

Wenceslas Line von Lüscher und Steinbrecher teilt den Wenzelsplatz der Länge nach und schafft eine Struktur für einen shared space. Prag Quadriennale 2015; Foto: PARK Steinbrecher

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Wenceslas Line von Lüscher und Steinbrecher teilt den Wenzelsplatz der Länge nach und schafft eine Struktur für einen shared space. Prag Quadriennale 2015; Foto: PARK Steinbrecher

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Aus einem ortsüblichen Gerüstsystem bauten sie auf dem 750 m langen und 60 m breiten Wenzelsplatz eine Hunderte von Metern lange Struktur – die „Wenceslas Line“ –, die eine inhaltliche und visuelle Beziehung zur Platzarchitektur und zum Städtebau schuf. Die „Wenceslas Line“ grenzte ab und teilte den Platz der Länge nach, war aber gleichzeitig Einladung, die Struktur nach Belieben – als Marktstand, Laufsteg, Sitzgelegenheit etc. – zu nutzen und sie mit Passanten zu teilen. Durch ihr Platzangebot für eine grosse Anzahl von Menschen, aber auch durch ihre schiere Präsenz erinnerte sie zudem daran, dass der Wenzelsplatz in der bewegten Geschichte der Tschechei immer wieder Ort von Manifestationen und Massenveranstaltungen war. Eine Hommage, die in Zeiten von globalen politischen Umwälzungen infolge von Bürgerkriegen, Volksaufständen und Massendemonstrationen von brisanter Aktualität ist.

Wenceslas Line als Ort der Begegnung und des Innehaltens im Prager Alltag. Prag Quadriennale 2015; Foto: Aleksandra Vajd, Pro Helvetia

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Wenceslas Line als Ort der Begegnung und des Innehaltens im Prager Alltag. Prag Quadriennale 2015; Foto: Aleksandra Vajd, Pro Helvetia

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