So nicht vergessen, dann doch weitgehend nur Insidern bekannt war bisher das Œuvre des Lausanner Architekten Jean Tschumi. Das ist kein Zufall. Hat doch – bei aller Wertschätzung für die klassische Moderne weltweit – gerade die Nachkriegsmoderne unter dieser Art Wertschätzung zu leiden.

So nicht vergessen, dann doch weitgehend nur Insidern bekannt war bisher das Œuvre des Lausanner Architekten Jean Tschumi. Das ist kein Zufall. Hat doch – bei aller Wertschätzung für die klassische Moderne weltweit – gerade die Nachkriegsmoderne unter dieser Art Wertschätzung zu leiden. Insofern als grandiose Architekturen insbesondere da von Abriss oder Verfall bedroht sind, wo nicht ein Name wie Le Corbusier, Mies van der Rohe oder Marcel Breuer sofort Denkmalschützer auf den Plan ruft. Das gilt von Marl in Deutschland (Hans Scharoun) bis in die USA (Richard Neutra), um nur zwei der prominenteren Beispiele herauszugreifen.

Wenn aber der Lausanner Architekt Jean Tschumi erst jetzt hierzulande wiederentdeckt wird, erstaunt das. Es erstaunt, weil er mit dem Hauptsitz der Firma Nestlé in Vevey ein Meisterwerk der Nachkriegsmoderne geschaffen hat, das weithin sichtbar und schon deshalb keinesfalls unbekannt ist. Handelt es sich bei dem eleganten Bauwerk doch geradezu um das Schweizer Epitom jener Modernität, deren Bild er massgeblich mitgeprägt hat und die aktuell im englischen Sprachraum – als »Cold War-»Modermism – Furore macht.

Der Architekt Jean Tschumi und sein Modell der wohl bekanntesten Hauptverwaltung der Schweiz:jenem der Nestlé-Konzernleitung in Vevey (1956 – 60) aus Anlaß der Verleihung des »Reynolds Award«

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Der Architekt Jean Tschumi und sein Modell der wohl bekanntesten Hauptverwaltung der Schweiz:jenem der Nestlé-Konzernleitung in Vevey (1956 – 60) aus Anlaß der Verleihung des »Reynolds Award«

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Nun ist diese Art der Vergesslichkeit aber auch gar nicht erstaunlich, ist doch das Werk von Jean Tschumi erfrischend sperrig. Roman Hollenstein sah es in der NZZ im Gegensatz zum architektonischen »mainstream« vor allem durch »Neugier, Beweglichkeit und Vielseitigkeit« charakterisiert. »Eigenschaften, die ihn« – wohl nicht nur gemäß dem NZZ-Redakteur – »von seinen doktinär-modernen Schweizer Kollegen unterschieden.«

»D i e beste Lösung gibt es nicht, nur zweitbeste Lösungen« (Jean Tschumi)

Dem dritten Preis beim Wettbewerb der Stadterweiterung von Lausanne (1932) folgte der »Grand Prix« der Stadt Paris für die unterirdische Verkehrsführung. Der Nestlé-Pavillion bei der Pariser Weltausstellung (1937) steht vor diversen Bauten für die Sandoz, bevor ihm mit dem emblematischen Entwurf der Hauptverwaltung für die Mutuelle Vaudoise (1951 – 56) ein erster sichtbar grosser Wurf gelang. Noch heute wirkt das Gebäude erstaunlich zeitgenössisch, vor allem in seiner plastischen Durchformung, die wie eine Vorwegnahme früher Entwürfe Rem Koolhaas’ erscheint.

Ein Meisterwerk – erst recht innen: Der Hauptsitz der »Mutuelle Vaudoise Accidents« (1952 – 56)

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Ein Meisterwerk – erst recht innen: Der Hauptsitz der »Mutuelle Vaudoise Accidents« (1952 – 56)

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Dem hohen Mass der Anerkennung, die ihm für das Gebäude der Mutuelle Vaudoise zuteil wurde, folgte nur wenige Jahre später der Direktauftrag der Nestlé für ihren Hauptsitz in Vevey (1959 – 60). Dann die Aula für das Lausanner ETH-Pendant EPFL (1957 – 62) und der – posthum vollendete – Sitz der WHO in Genf (1962 – 66; gemeinsam mit Pierre Bonnard).

Insgesamt ein Dutzend Projekte, neben der Arbeit in Gremien, Jurys und Verbänden und seiner Tätigkeit als Lehrer. Nicht zu vergessen seine Pariser Lehrjahre, in deren Folge er in einer – wie es heute heisst – Arbeitsgemeinschaft für die Ausstattung des Ozeanliners »Normandie« mitverantwortlich war (1932 – 35). Und das, nachdem er sich seine ersten Sporen (ab 1925) im Atelier von Jacques Ruhlmann verdient und seine Talent erstmals unter Beweis gestellt hatte.

»In der Schweiz baut man keine Pfeffermühle – nur für Touristen«

1960 erhält er für das Nestlé-Gebäude den »Reynolds-Award«; damals das, was der »Pritzker«-Preis heute ist: Nobelpreisersatz für die Architektur. Derart geadelt, macht er sich an den Entwurf einer »gigantischen Aussichtsplattform« (Roman Hollenstein) für die EXPO 1964 in Lausanne, als er am 25. Januar 1962 völlig überraschend auf seiner Pendlerstrecke im Nachtzug zwischen Paris und Lausanne (Tschumi unterhielt an beiden Orten Ateliers) stirbt.

Nestlé: Illustration der Lobby

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Nestlé: Illustration der Lobby

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Vielleicht würde Jean Tschumi heute als ein »Wegbereiter der spektakulären Architektur unserer Zeit gelten«, wie der NZZ-Autor zu Recht mutmasst. Doch das Observatorium – und mit ihm die Aussichtsplattform – blieben unrealisiert. Sein Sohn Bernhard erinnert sich, wie er von der Entscheidung erfuhr. Sein Vater soll ihm lächelnd erklärt haben: »In der Schweiz baut man keine Pfeffermühle – nur für Touristen«.

1961 geplant für die nationale »Expo« 1964 in Lausanne als Observatorium – jedoch nicht gebaut

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1961 geplant für die nationale »Expo« 1964 in Lausanne als Observatorium – jedoch nicht gebaut

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Mehr als 230 Dokumente, Skizzen und Zeichnungen – inklusiv einiger Möbelstücke – verdeutlichen vor allem eines: wie systematisch Jean Tschumi Varianten im Entwurf durchdekliniert und erprobt hat.

Epilog: Als Bernhard Tschumi 2001 in Lausanne der Eröffnung des Metro-Teilstücks »Flon« beiwohnt, war dies wohl die oft zitierte Ironie der Geschichte. Wie anders wäre zu erklären, dass etwas von jener Weitsicht, die an dem urbanistischen Plan seines Vaters ablesbar ist, posthum von seinem Sohn (der seinerseits Architekt geworden ist) umgesetzt werden konnte. Als Wettbewerbserfolg – wenn auch erst nach langer Planungsphase, dafür wahrhaft unabhängig; vom Herrn Papa ebenso wie von seinem bekannten Namen. Ein derart glückliches Händchen würden sich geneigte Beobachter so mancherorts wünschen; nicht nur da, wo Monsieur Tschumi seine Projekte realisiert hat – was allein schon für die intensivere Auseinandersetzung mit dem beispielhaft wegweisenden Œuvre von Jean Tschumi sprechen dürfte.

Jean Tschumi architecture échelle grandeur
ETH Zentrum (Haupthalle main hall) Rämistrasse 101
10.12.2008 – 22.1.2009

Der Architekturgeschichtler Jacques Gubler hat eine ebenso sorgfältige wie reich illustrierte Begleitpublikation zur Ausstellung vorgelegt: »Jean Tschumi architecture échelle grandeur« (presses polytechniques universitaires romandes: 176 Seiten / Broschur 59 CHF / ca. 39 €)