155 Cumberland

Wer kennt sie nicht, die scheinbar wahllos hingestreuten, lieblos hingeworfenen, unangebracht wirkenden Bauten? Architektur, die nicht zwingend unschön aber importun ist, die ein Gefühl der Deplaciertheit, Gleichgültigkeit oder gar der Beklemmung hervorruft. Verbreitet sind diese Bauten nicht, sie erscheinen plötzlich beim Stadtspaziergang, irritieren beim Apéro im Strassencafé, stören beim Blick aus der Strassenbahn, den man peinlich berührt schnell wieder abwendet. Unangebracht wirkt oft stillos.

Architektur soll für sich stehen, ohne jedoch zu dominieren. Gute Architektur passt sich in die Umgebung ein, nicht umgekehrt. Mit dem Standort im Einklang stehende Gebäude fallen nicht als störend auf, ohne auf eine starke Präsenz zu verzichten, fügen sich ein, ohne unterzugehen, schaffen ein homogenes Stadtbild, ohne an Einzigartigkeit einzubüssen. Für den Architekten ist der Gang zu der und um die geplante Baufläche unverzichtbar. Neben benachbarten Gebäudestrukturen und -materialitäten entdeckt er ganz andere, essentielle Gegebenheiten wie Sonnenstand und von menschlichen Gepflogenheiten gezeichnete Spuren wie Trampelpfade. Diese deuten auf gewohnte Bewegungen auf dem Areal hin, auf welchem die zu planende und realisierende Architektur stehen wird. Schwieriger wird es, wenn man auch noch das Darunter einbeziehen muss, und damit ist hier nicht die Bodenkonsistenz gemeint.

Mit steigender Nachfrage nach Wohn- und Arbeitsflächen im urbanen Raum ist der Bau von Hochhäusern unvermeidlich. Unvermeidlich schien bisher auch die Platzschaffung für Neubauten durch die leidliche Entfernung älteren Baubestands.

Das Kunststück, dies zu umgehen, ist Quadrangle Architects in Toronto hoch über der Kreuzung von Bloor und Cumberland Street gelungen. Zusammen mit der KingStreet Capital Group, eine Immobilien-Investmentgesellschaft, welche das Haus an besagter Kreuzung 2005 für 58 Millionen Dollar gekauft hatte, planten sie die Rekonfiguration eines zentralen Gebäudes. Dessen Design, wird vermutet, sei vom amerikanischen Architekt und Architekturkritiker Philip Johnson.

Haus 2009 auf Haus 1960: während der letzten drei Jahre wurde das Projekt im Bloor-Yorkville District realisiert und befindet sich nun im Endausbau. Die ersten zwölf Stockwerke sind einer Renovation unterzogen worden, bei welcher auch neue Wasser- und Stromsysteme gelegt wurden. Vom ursprünglichen Konzept beibehalten wurden erstklassige Läden im Erdgeschoss und ein zweigeschossiges Penthouse, neu sind neun Geschosse mit Büroflächen und 14 luxuriöse Appartements dazukommen. Das Design der Wohnungen, welche ab 4 Millionen Dollar im Angebot stehen, werden von J.F. Brennan design/Build Inc. ausgestattet. Bevor sie überhaupt von der Immobilienverwaltung Chestnut Park Real Estate ausgeschrieben werden konnten, waren schon vier der Luxusresidenzen vergeben.

Um sechs Stockwerke mit Eigentumswohnungen aufzubauen, höhlte man das 11. und 12. Stockwerk des alten Hauses aus. Dies liess ausreichend Platz auf dem freigelegten 10. Stock, um einen grossen Kran zu platzieren, welcher in der Konstruktionsphase Materialien wie getöntes Glas, Kalkstein aus Indiana und 1'400 Tonnen Stahl von der Bloor Street hochzog.

Der Bau musste zuerst verstärkt werden, da die weiteren Stockwerke der vorhandenen Struktur ein beträchtliches, zusätzliches Gewicht zumuten. Die bestehenden Stockwerke wurden jeweils mit mehreren 'Doppel-T-Stahlträgern' ausgestattet. "Wir werden nachts und an den Wochenenden durch die Büros gehen, die I-Träger freilegen und auf jeden Stützbalken eine Platte schweissen" erklärte Brian Curtner, Mitgründer von Quadrangle Architects. "Die I-Form wird durch Metallplatten verstärkt und kreuzförmige Stahlumreifungen werden an die Träger geschweisst, um sie zusätzlich zu stützen. Die Aussenwände des bestehenden Gebäudes werden ebenfalls ausgesteift."

'155 Cumberland' wird das Projekt genannt. Damit das Redesign auffällt, wird mit den Geschäften im Parterre und ersten Stock zusammengearbeitet, wo Hugo Boss, Gucci, Cartier, Lululcmon outlet und Nicolas Men's and Women's Wear einquartiert sind. 155 Cumberland ist zweifellos ein gelungenes Beispiel, Alt und Neu auf gekonnt subtile Weise zu vereinen. "Unsere Firma hat viel Erfahrung bei solchen Anpassungsprojekten in der Stadt. Wir haben gelernt, wie man von den Qualitäten eines Gebäudes profitieren kann. Die Kunst besteht darin, das Gebäude in etwas Spannendes zu verwandeln, anstatt es abzureissen," meint Curtner dazu.

Zu Recht haben Quadrangle Architects den Royal Architectural Institute of Canada’s (RAIC) Award of Excellence for Innovation in Architecture für 155 Cumberland gewonnen. “Es war wie eine Operation am offenen Herzen bei einem wachen Patienten” umschreibt der Architect. “Wir sind stolz, dass unsere Arbeit an der 130 Bloor St. West durch diese renommierte Auszeichnung gewürdigt wurde."