Wie setzt man Literatur architektonisch um – und wie manifestiert sich Architektur in der Literatur?

Ausgehend von den Schriften Max Frischs, insbesondere dem Roman «Stiller», hat der in London lebende Architekt Markus Seifermann (Studio ’Patalab) eine Installation geschaffen, die eine Brücke zwischen Literatur und Architektur schlägt. Mit der Suche nach einer verlorenen Identität nimmt die räumliche Annäherung an Max Frischs «Stiller» ein zentrales Motiv im Roman auf und spielt es aufs Neue durch. Die Installation wurde vom Max Frisch-Archiv der ETH Zürich mit organisiert.

«The Lost Space of Stiller» in der ETH Zürich

Lost Space found - Architektur mit Geschichte | Aktuelles

«The Lost Space of Stiller» in der ETH Zürich

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Es ist das grosse Dilemma des Architekten, sich immer mit dem Nebensächlichen beschäftigen zu müssen, um das Eigentliche zu erreichen. Das Eigentliche, das ist der Raum, in dem sich das Leben der Menschen entfaltet und der sich in ständiger Veränderung begriffen ist. Der Architekt aber arbeitet an Materiellem, Statischem. Damit teilt der Gestalter das Los des Schriftstellers: «Was wichtig ist: das Unsagbare, das Weisse zwischen den Worten...», hatte Frisch einst geschrieben. Die Installation Seifermanns handelt genau davon: Nicht die einzelnen ausgestellten Gegenstände sollen im Vordergrund stehen, sondern das, was sich durch deren Kombination im Raum abspielt, erklärte Seifermann. Er nannte dies auch den «magischen Moment» – ein Glücksgefühl, das gute Architektur durch die Gestaltung von Räumen in Menschen provozieren könne. Die Technik der Collage und des «Readymade», wie sie hier verwendet wird, steht in direktem Bezug zu Frischs eigener literarischer Herangehensweise. Auch er hat in Erzählungen wie «Der Mensch erscheint im Holozän» Fremdtexte collageartig in die Geschichte seiner Protagonisten eingewoben.

Auf der Suche nach dem Unsagbaren - Sammlung von Indizien.

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Auf der Suche nach dem Unsagbaren - Sammlung von Indizien.

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In drei übergrossen Holz-Frachtcontainern, die sich um eine Wohnzimmer-ähnliche Szenerie mit Couch, Fernseher, Teppich und Kronleuchter gruppieren, hat Seifermann freie Assoziationen zum Roman gebaut. In der mobilen Wohneinheit haust die imaginierte Figur des «Identity Stalker». Er sammelt Indizien für Stillers vermeintliche Identität, die er zu einem Ganzen zusammenfügen will - ein Unterfangen, mit dem er freilich scheitern muss. In einem musealen Badezimmer im einen Container zum Beispiel summen mehrere in den Raum gehängte Rasierapparate einen elektrisierenden, repetitiven Rhythmus. Gegenüber finden sich in einer Vitrine Glasschalen mit präparierten Barthaar-Landschaften – ein «Rasiertagebuch», wie man im Begleittext nachlesen kann. Eine Projektion im Esszimmer zeigt Zürcher Gebäude, in denen Personen namens Stiller wohnen. Aus einer Ecke der Halle steigen aus mehreren Grammophontrichtern Gesprächsfetzen in die Höhe, während im dritten Container sechs Puppentorsos an Fleischerhaken über einem langen Tisch mit Fleischwölfen hängen. Fundobjekte, Film, Geräusche und Bilder verschwimmen in der Installation zu einem teils heiteren, teils beängstigenden Gesamtkunstwerk und der Name Stiller wird zur universellen Metapher für eine verleugnete Identität. Nur Texte sucht man hier vergeblich – der Architekt wollte seiner Ausdrucksform treu bleiben. Er hat den Räumen eine Funktion zugeordnet und sie entsprechend eingerichtet, ohne jedoch auf die Raumformgebung oder den Standort in der imposanten Haupthalle der ETH einzugehen.

Torsos und Fleischwölfe als Teil der Installation. Bild: S. Schläfli/ETH Zürich

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Torsos und Fleischwölfe als Teil der Installation. Bild: S. Schläfli/ETH Zürich

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Von 1936 bis 1940 hatte Max Frisch an der ETH Zürich Architektur studiert. In den anschliessenden 14 Jahren seiner «nebenberuflichen» Tätigkeit als Architekt entstanden zwar nur vier Bauwerke, das grösste davon das 1949 eröffnete Freibad Letzigraben im Landistil, für welches Frisch einen mit 3000 Schweizer Franken dotierten Architekturwettbewerb der Stadt Zürich gewonnen hatte. Trotzdem interessierte sich Frisch zeitlebens für Architektur und Raum – sei es im konkreten Bau oder imaginär in den Erzählungen seiner Geschichten.

Wer den Roman Stiller kennt und sich direkte Verweise auf den Inhalt erhofft, ist von der Installation wahrscheinlich enttäuscht. Einzig das in seinen Romanen wiederkehrende Element der Suche nach einer Person wird wiederspiegelt. Seifermann geht es bei seinem Werk nicht um eine Visualisierung oder eine Nachstellung des Buches, wie er an der Vernissage erläuterte. Diese erste, vordergründige Ebene von Räumlichkeiten, wie das im Buch beschriebene Sanatorium oder die Gefängniszelle, hätten ihn nur bedingt interessiert, so der Architekt. Vielmehr habe er sich für die zweite Ebene interessiert, für die Räume, die sich zwischen den Menschen in Frischs Buch auftun – so zum Beispiel zwischen den Hauptprotagonisten Stiller und Julika. Diese zweite Ebene dürfte zwar sicherlich nicht für jeden Besucher der Installation auf anhin zugänglich sein. Doch lässt man sich ein wenig auf die Umgebung ein, so kriegt man unwillkürlich ein Gefühl für Stillers hoffnungslose Identitätssuche oder Homo Fabers Kämpfe mit der eigenen Person – sei es zum Beispiel nur durch die nervtötende, sich nach einem hereinbrechenden Gewitter anhörenden Endlosschlaufe einer Wachs-Schallplatte.

Geräuschcollage mit hängenden Rasierapparaten.

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Geräuschcollage mit hängenden Rasierapparaten.

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Zur Installationsbeleuchtung
Im Bereich der Kulturgüter, insbesondere der visuellen Künste, ist der Bezug zwischen Licht und Umfeld ein komplexer Forschungsgegenstand, bei dem es um Nutzung, Erhaltung und Interpretation der Werke geht. Der italienische Hersteller iGuzzini widmet sich der Erforschung dieser Zusammenhänge und wurde 1998 für seine zahlreichen kulturellen Aktivitäten auf lokaler und nationaler Ebene mit dem Guggenheim-Preis ausgezeichnet.

iGuzzini Schweiz hat als offizieller Sponsor nicht nur die Planung und Umsetzung der Beleuchtung für die Installation übernommen, sondern auch für die Zeit der Ausstellung die Kuppel der ETH von aussen neu beleuchtet. Für die Eingangshalle wurden 18 Stehleuchten des Typs Cestello auf zwei Ebenen gewählt, welche eine einfache und flexible Kontrolle des Grundlichts erlauben. Im Esszimmer der Installation, wo auf die Projektionen auf dem Tisch Rücksicht genommen werden musste, kommen dimmbare LED-Einbauleuchten des Typs Express zum Einsatz, die jeweils auf die wichtigen Objekte des Raums ausgerichtet sind. Eine Fluoreszenzröhre von 6500 Grad Kelvin sorgt für eine kalte und aseptische Atmosphäre im Bad. Die Aussenbeleuchtung akzentuiert die Fensterfläche der Kuppel mit Linealuce- und Woody-Leuchten, die abwechselnd mit kalten und warmen Entladungslampen und Fluoreszenz bestückt sind. Die Fassade wird von Maxiwoody, ebenfalls mit Entladungslampen, beleuchtet.