Gleich und doch anders: Designklassiker und deren Anpassung an die Gegenwart
Text von Simon Keane-Cowell
Zürich, Schweiz
12.12.12
Nichts bleibt so, wie es einmal war, sagt man. Aber ist das auch gut so? Wie verhält es sich mit Jahrzehnte alten, oft ikonischen Designs? Soll man sie so erhalten, wie sie einst konzipiert wurden und sie heute mit den damaligen, "echten" Produktionstechniken herstellen? Oder sollen sich Hersteller – im Namen der gegenwärtigen Marktbedürfnisse – die Freiheit nehmen, diese Klassiker in Materialität, Technik oder sogar Form an die heutigen Gegebenheiten anzupassen? Und wie sieht es dabei mit den Urheberrechten aus? Architonic forscht nach.
Ich gestehe: Vor langer Zeit (und wir reden hier wirklich von einigen Jahren) kaufte ich eine nicht lizenzierte Kopie einer Ikone des Möbeldesigns der Mitte des letzten Jahrhunderts. Nennen Sie es eine vorübergehende Geschmacks-Verirrung, einen Moment des Wahnwitzes, wenn Sie so wollen. Ich bin nicht stolz auf mich, und es geschah mir ganz recht: Ich war von der Qualität des Stuhls enttäuscht, sobald er in meinem Haus seinen Platz gefunden hatte. Ich habe also meine Lektion gelernt.
Aktionsgruppen wie ACID (Anti Copying in Design) in Großbritannien arbeiten hart daran, eine Sensibilisierung für den Missbrauch des geistigen Eigentums beim Design zu fördern (wobei sie von Verbraucher-Publikationen wie Elle Decoration unterstützt werden). Die Frage, wie weit ein gutgläubiger Lizenznehmer eines Designs das Produkt in seinen formalen, materiellen und technischen Strukturen modifizieren kann, wurde bisher jedoch deutlich weniger debattiert.
Der Geschäftsführer von Vitsoe, Mark Adams, beschreibt Dieter Rams‘ Stuhl- Programm 620 als einen „Baukasten“. Ab 2013 ist der Londoner Hersteller der alleinige Lizenzinhaber für das legendäre Möbel-Portfolio des Ex-Braun-Design-Direktors
Der Geschäftsführer von Vitsoe, Mark Adams, beschreibt Dieter Rams‘ Stuhl- Programm 620 als einen „Baukasten“. Ab 2013 ist der Londoner Hersteller der alleinige Lizenzinhaber für das legendäre Möbel-Portfolio des Ex-Braun-Design-Direktors
×An welchem Punkt hört ein „Original-Design“ – und vor allem eines, das zur Ikone geworden ist – auf, das Original zu sein, wenn an ihm eine Reihe von Anpassungen, Optimierungen oder „Verbesserungen“ vorgenommen wurden? Bedeuten solche Eingriffe den Untergang des Autors? Oder ist ein industriell gefertigtes Design-Objekt immer in einem gewissen Sinne eine Kopie?
Molteni & C hat sich ausführlich mit dieser Thematik beschäftigt, als man vor kurzem vor der Aufgabe stand, eine Sammlung von Gio Ponti Möbelentwürfen neu herauszubringen, die der angesehene Architekten-Designer zuvor für den eigenen Privategebrauch entworfen hatte oder die als limitierte Editionen produziert worden waren. Im Katalog des italienischen Herstellers finden wir die Frage: 'Was bedeutet es, ein Designobjekt Jahrzehnte später neu zu aufzulegen, und was bedeutet es, wenn die Fertigungstechniken und Systeme sich radikal geändert haben oder wenn Regulierungen es verbieten, bestimmte Originalmaterialien einzusetzen und die Hersteller zu Alternativen zwingen?"
In Mailand organisierte Molteni ein Round-Table-Gespräch. Dort kam der ehemalige Cosmit-Vorsitzende Carlo Guglielmi, der auch INDICAM, die italienische Anti-Fälschungs-Organisation leitet, zum Schluss, dass 'Unternehmen in bestimmter Weise das Werk verändern können, wenn ihre Eingriffe die ursprüngliche Idee, den Sinn und die Vision desjenigen respektieren, der das Objekt entwickelt hat'. Dies ist sicherlich der Fall bei Moltenis Gio-Ponti-Sammlung. Das Unternehmen arbeitete in Absprache mit der Familie des Designers, aber auch mit dem Gio-Ponti-Archiv zusammen, als es das Bücherregal, die Kommode, den Sessel, den Teetisch und den Teppich produzierte.
Molteni & C hat sich mit der heiklen Frage der lizenzierten Reproduktion von klassischen Designs auseinandergesetzt und mit der Frage, wie sehr man Gio-Ponti- Designs verändern kann, wenn diese davor in limitierter Auflage in Produktion gegangen sind
Molteni & C hat sich mit der heiklen Frage der lizenzierten Reproduktion von klassischen Designs auseinandergesetzt und mit der Frage, wie sehr man Gio-Ponti- Designs verändern kann, wenn diese davor in limitierter Auflage in Produktion gegangen sind
×Aber was es heißt, eine Original-Idee zu respektieren, ist offen für Interpretationen.
Vitras Überarbeitung des zur neckischen Ikone gewordenen „Lounge Chair“ von Charles und Ray Eames (1956), für den sie die Lizenz für den europäischen Markt halten, veränderte auch die Dimensionen, um den eher vertikal ausgerichteten Menschen unter uns - auch als große Menschen bezeichnet - gerecht zu werden. Der Schweizer Hersteller bietet beide Versionen des Produkts an – das Original und die modifizierte. Es wäre unhöflich zu behaupten, dass die neue Fassung dieses klassischen Stücks das Original nicht respektiert.
Der Chef-Designer des Kölner System-Möbel-Herstellers S+ Thomas Merkel erkennt die Notwendigkeit, bei etablierten Produktdesigns zu intervenieren, aber erkennt auch die Empfindlichkeiten rund um solche Neuerungen, insbesondere im Hinblick auf die Urheberschaft. „Ich bin sicher, wenn Eames heute leben würde, dann würde er den Stuhl ändern", sagt er, „Aber wenn ein anderer es tut, dann müssen Sie jemand finden, der es richtig machen kann. Ich hätte ein Problem damit, dass jemand daherkommt und eine Änderung an meinem Design vornimmt, von der ich nichts weiß. Ich würde es lieber selbst tun."
„Wenn Eames heute noch leben würde, dann würde er den Stuhl ändern", sagt der Chef-Designer von S+ Thomas Merkel über den 'Lounge Chair' von 1956, den der Hersteller Vitra nun auch in einer großzügig angelegten Version anbietet
„Wenn Eames heute noch leben würde, dann würde er den Stuhl ändern", sagt der Chef-Designer von S+ Thomas Merkel über den 'Lounge Chair' von 1956, den der Hersteller Vitra nun auch in einer großzügig angelegten Version anbietet
×Wenn jemand sich bei der Komplexität der heiklen Prozedur auskennt, zur Ikone gewordene Designprodukte weiterzuentwickeln, dann ist es Merkel. Er kam 1996 zum neu gegründeten Unternehmen SDR+ sozusagen als Hüter der Möbel-Designs von Dieter Rams. (Das DR im Firmennamen bezog sich auf den legendären deutschen Industriedesigner, während das + bedeutete, dass das Werk von Dieter Rams erweitert werden sollte. Neue Systeme sollten im Einklang mit seiner bekanntermaßen strengen Design-Philosophie geschaffen, zugleich aber die erforderlichen technischen Eigenschaften der Produkte auf dem neuesten Stand gehalten werden.)
Namen ändern sich manchmal genauso wie Designs. Anfang 2013 wird sich der Name des deutschen Herstellers offiziell von SDR+ in S+ ändern, da die komplette Palette der weltweiten Rechte für die Möbel des ehemaligen Braun-Chefdesigners an den Londoner Hersteller Vitsoe übergeht. Seit Mitte der 1990er Jahre hatte Vitsoe die Lizenz, sein legendäres 606 Regalsystem für den Verkauf außerhalb Europas zu produzieren, während SDR+ darüber hinaus die Europäische Lizenz für das Produkt besaß, aber auch die weltweiten Lizenzen für Rams andere Systeme – sein Stuhl-Programm 620 und sein Tisch-Programm 570 gehören hierzu.
„Ohne Zweifel ein hervorragendes Produkt“, so beschreibt Thomas Merkel von S+ (früher SDR+) das legendäre Regalsystem 606 von Dieter Rams. SDR+ und Vitsoe arbeiteten mit Rams über 15 Jahre an einer Reihe von „Anpassungen" und „Verbesserungen"
„Ohne Zweifel ein hervorragendes Produkt“, so beschreibt Thomas Merkel von S+ (früher SDR+) das legendäre Regalsystem 606 von Dieter Rams. SDR+ und Vitsoe arbeiteten mit Rams über 15 Jahre an einer Reihe von „Anpassungen" und „Verbesserungen"
×Der Grund für die Übertragung? Nach Merkels Ansicht bestand zwar ein produktives Verhältnis mit Rams, das zu einer Reihe von "Anpassungen und Aktualisierungen, die natürlich mit ihm besprochen wurden" führte. Das Thema ‚Farbe‘ brachte aber Dieter Rams dazu, sich von SDR+ zu verabschieden. Laut Merkel war Rams nicht sonderlich erfreut über de Verkauf seines Regal-Programms 606 in Sonderfarben. (Die Präsentation seiner Regale auf einer Ausstellung in Italien in einer Spezialfarbe war angeblich der Auslöser für den Entzug der Lizenzen oder vielmehr für die Nicht-Verlängerung.)
Wenn Ihrem Geschäft ein Produkt entzogen wird, das 80 % Ihres Umsatzes ausgemacht hat, dann ist dies, gelinde gesagt, eine Herausforderung. Aber ein entspannter Merkel sieht die Dinge von beiden Seiten. „Es ist eine schwierige Situation für mich", erklärt er, „als Designer verstehe ich seine Einstellung. Aber ich bin auch Teil eines Unternehmens, das das Produkt verkauft." Für Merkel gibt es oft eine Spannung zwischen der Vision des Designers und der Realität des Marktes und dessen Forderungen. „Für Rams", sagt Merkel, „geht es nicht um kommerzielle Interessen. Es geht um eine Einstellung gegenüber dem Design."
Das Stuhl-Programm wurde von Dieter Rams entworfen und erstmals 1962 vorgestellt. Es durchlief eine interne Neugestaltung, die der Geschäftsführer von Vitsoe, Mark Adams, als „ein gewaltiges Unterfangen“ beschreibt
Das Stuhl-Programm wurde von Dieter Rams entworfen und erstmals 1962 vorgestellt. Es durchlief eine interne Neugestaltung, die der Geschäftsführer von Vitsoe, Mark Adams, als „ein gewaltiges Unterfangen“ beschreibt
×Vitsoes Geschäftsführer Mark Adams hat immer Dieter Rams anspruchsvolles Konzept begrüßt. Das Unternehmen, benannt nach seinem Gründer Niels Vitsoe, der seit 1959 zusammen mit dem Designer Otto Zapf Rams’ wichtigsten Möbeldesigns auf den Markt bringt, hat von seiner anspruchsvollen, nachdenklichen Art enorm profitiert. „Seine Fähigkeit, so eine Art Inquisitor zu sein", erklärt Adams, „ist für uns sehr wertvoll."
Als Gegenpol zu Merkel sieht Adams, der zehn Jahre mit Niels Vitsoe zusammenarbeitete, bevor dieser 1995 starb und dessen Zusammenarbeit mit Rams sich jetzt in ihrem 27. Jahr befindet, die Vorstellungen und Praktiken der Reduktion und Einfachheit nicht im Widerspruch zur Rentabilität von Unternehmen. „Wir werden nicht fortsetzen, was SDR+ zum Beispiel mit (dem Regalsystem 606 in) Reinweiß getan hat, denn das ist nicht originalgetreu. Das Original war hellgrau.“ Reduktion, behauptet er, „ist was dem Kunden so viel Freiheit wie möglich gibt. Es geht um Aufklärung des Kunden. Wir sagen beispielsweise nicht „Du sollst kein Rot in deinem Leben haben!“ Aber tun Sie es auf andere Weise als mit Möbeln, die eine Generation oder zwei oder drei oder vier halten sollen."
Adams geht um es um den langen Atem, die Kontinuität eines Produkts, auf der langfristige Kundenbeziehungen aufgebaut werden können. „Möbel können kein Modeartikel sein", argumentiert er. „Wir werden uns nicht auf dieses Spiel einlassen. Wenn wir ein paar Kunden verlieren, weil wir nicht der Mode hinterherlaufen, dann sagen wir selbstbewusst: „Wir freuen uns, diese zu verlieren."
Die Zukunft ist vielversprechend für S+. Mit dem Abfluss der Lizenzen für die Möbel von Dieter Rams wurde ein völlig neues System für Regale und Anrichten mit technisch innovativen Halterungen entwickelt, die große Flexibilität ermöglichen
Die Zukunft ist vielversprechend für S+. Mit dem Abfluss der Lizenzen für die Möbel von Dieter Rams wurde ein völlig neues System für Regale und Anrichten mit technisch innovativen Halterungen entwickelt, die große Flexibilität ermöglichen
×Dies soll nicht heißen, dass Vitsoe nicht auch wie SDR+ im Laufe der Jahre technische Änderungen an dem Regalsystem 606 von Rams vorgenommen hätte. „Ich wurde im vergangenen Jahr gebeten,“' erklärt Adams, dessen Hintergrund in der Evolutionsbiologie hier zu passen scheint, „die Verbesserungen zu dokumentieren, die wir an dem Regalsystem seit 1995 gemacht haben - und ich kam auf eine Liste von 80 Verbesserungen; vom kleinen Detail bis zu bedeutenden, großen Eingriffen. Dieter war an all dem, bei jedem Schritt beteiligt."
Mit dem Datum der offiziellen Übergabe der Möbel-Design-Lizenzen am 1. Januar 2013 an Vitsoe hat Rams eine Erklärung veröffentlicht, in der er das Unternehmen als "die besten Hände" beschreibt, in die er sein komplettes Portfolio an Büromöbeln geben konnte, wenn man bedenkt, dass es sich 'in echter Übereinstimmung mit den Werten meines Designs‘ befindet. Der Verlust von S+ scheint zu diesem Zeitpunkt Vitsoes Gewinn zu sein.
Doch die Geschichte endet hier nicht. Beide Unternehmen gehen forsch voran und stellen sich den jüngsten Entwicklungen. Thomas Merkel sieht die Entwicklung, die sich ihm und seinen Kollegen bietet, als kreative Chance. S+ hat ein neues Regalsystem, 'System M', entwickelt, das sich von Rams legendärem System 606 inspirieren lässt. Aber es wird alles ein wenig anders gestaltet.
„Für mich", erklärt Merkel, „ist das System 606 ohne Zweifel ein hervorragendes Produkt. Aber es ist aus den 1960er Jahren. Würde man heute dieses System schaffen, dann würde man es anders machen. Man würde versuchen, eine andere Lösung zu finden. Das ist, was wir versucht haben, mit unserem neuen System zu tun." Technisch neue Halterungen, die eine größere Flexibilität für die Positionierung der einzelnen Elemente ermöglichen, sind nur eine der Innovationen.
Das M05 Programm der Beistelltische von S+, entworfen von Thomas Merkel, ist, wie man es von diesem deutschen System-Möbel-Hersteller erwartet, durch und durch systematisch. Vier unterschiedliche Tischhöhen und Tischplatten sind erhältlich
Das M05 Programm der Beistelltische von S+, entworfen von Thomas Merkel, ist, wie man es von diesem deutschen System-Möbel-Hersteller erwartet, durch und durch systematisch. Vier unterschiedliche Tischhöhen und Tischplatten sind erhältlich
×Unterdessen behält das System 606 für Vitsoe weiterhin eine beträchtliche Bedeutung, jetzt sogar mehr, da das Unternehmen der alleinige internationale Lizenzinhaber ist. Darüber hinaus bedeutet der Erwerb der Rechte an Rams ebenso systematischem Stuhl-Programm 620, das erstmals 1962 auf den Markt kam, für den Hersteller eine große Investition für dessen Weiterentwicklung. Adams hat dies als "ein gewaltiges Unterfangen" beschrieben. Sein Team verbrachte die letzten 18 Monate damit, das Innenleben der Sitzsysteme völlig neu zu überdenken, dabei aber außen deren formalen und visuellen Qualitäten zu bewahren. Hieraus wurde ein Produkt, das nach Aussage des Geschäftsführers von Vitsoe eine höhere Qualität hat, aber deutlich preiswerter sein wird und schneller geliefert werden kann.
„Auto-Designs wie der neue Fiat 500 oder der Mini – dies sind reine Übungen in der äußeren Form," argumentiert Adams. „Die Art, wie wir Dinge tun, ist genau das Gegenteil davon. Wir halten der ursprünglichen Philosophie die Treue."
Originalität. Gleichheit. Flexibilität. Unterschiedlichkeit. Geht es um das Verhältnis zwischen historischem Wert und gegenwärtiger Relevanz von Designklassikern, stellt sich die verflixte Frage, wie original diese noch sind, wenn sie über die Zeit immer mehr an neue Gegebenheiten angepasst werden. Das einzige wobei man sich bei diesem Sachverhalt sicher sein kann, ist die Tatsache, dass es es hierzu vielerlei unterschiedliche Meinungen und Positionen gibt. Es verhält sich ein bisschen wie mit Rams' modularen Systemen – man kann es sich so zusammenstellen, wie es einem am besten dient.