Mailand 2013: Der Geist des Handwerks schwebt über dem Brera Design District
Text von Simon Keane-Cowell
Zürich, Schweiz
26.03.13
Mehr denn je suchen Gestalter heute nach Wegen, um ihren Produkten zusätzlichen Wert zu verleihen. Handwerkliches Denken erlebt bei der Entwicklung von Design eine Renaissance. Es gibt wohl kaum einen besseren Ort, um diesen Trend zu beobachten und zu diskutieren, als Mailands führendes Designviertel Brera, das lange Zeit eine Wiege des künstlerischen Ausdrucks und des Handwerks war.
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Der Brera Design District zählte während der letztjährigen Mailänder Möbelmesse über 100.000 Besucher. Das Programm für 2013 verspricht noch mehr Höhepunkte; Foto Patrick Tomei Neri für Brera Design District 2012
Der Brera Design District zählte während der letztjährigen Mailänder Möbelmesse über 100.000 Besucher. Das Programm für 2013 verspricht noch mehr Höhepunkte; Foto Patrick Tomei Neri für Brera Design District 2012
×Seine gepflasterten Strassen, seine Restaurants und die ständig anwesenden Kartenleger ziehen seit Langem Touristen an. Man braucht keine seherischen Fähigkeiten, um das Treiben im Mailänder Altstadtviertel Brera erfassen zu können. Das Gebiet hat sich über den jährlichen Salone del Mobile hinaus zu einem Anziehungspunkt des Designs entwickelt. Zahlreiche hochwertige Designmarken haben in Brera bereits einen Showroom eröffnet und der Trend scheint sich fortzusetzen.
Zur Messezeit im April präsentieren unter dem Banner Brera Design District die festansässigen Hersteller des Premiumsegments ihre Kollektionen gemeinsam mit weiteren Qualitätsmarken, die sich temporär in architektonisch attraktiven Lokalitäten des Viertels einmieten. Der historische Stadtteil wird in dieser Zeit noch stärker zu einem Magnet für herausragendes Design und bietet den Besuchern ein Erlebnis, das in der Gesamtheit die Summe seiner einzelnen Bestandteile überragt. Die Ausgabe von 2013 ist die vierte. Sie weist noch mehr Höhepunkte auf als das letztjährige Programm, das eine beachtliche Zahl von 100.000 Design-Begeisterten anlockte.
Geberit wird auch dieses Jahr wieder nach Brera zurückkehren. Der Hersteller von Sanitärtechnik wird seine Produkte im Museo Minguzzi ausstellen; Foto Patrick Tomei Neri für Brera Design District 2012
Geberit wird auch dieses Jahr wieder nach Brera zurückkehren. Der Hersteller von Sanitärtechnik wird seine Produkte im Museo Minguzzi ausstellen; Foto Patrick Tomei Neri für Brera Design District 2012
×Der Showroom der Designmarke Moroso an der Via Pontaccio wird von Patricia Urquiola in eine dynamische Installation mit dem Titel „The Revolving Room“ verwandelt; Foto Patrick Tomei Neri für Brera Design District 2012
Der Showroom der Designmarke Moroso an der Via Pontaccio wird von Patricia Urquiola in eine dynamische Installation mit dem Titel „The Revolving Room“ verwandelt; Foto Patrick Tomei Neri für Brera Design District 2012
×Die Designjunction in London bietet jährlich einigen führenden internationalen Designmarken und kleineren Designlabels eine Plattform. Mit ihrem eigenen Konzept hebt sich die Schau von traditionellen Designmessen ab und macht diesen starke Konkurrenz. Der Mailänder Ableger der sorgfältig kuratierten Designjunction heisst Edit. Für Deborah Spencer, den Kopf von Designjunction, war es sofort klar, dass die Edit im Brera-Quartier stattfinden muss. „Das Gebiet hat sich stark entwickelt. Es verfügt heute über die höchste Dichte an Showrooms und ist aus allen Teilen der Stadt gut erreichbar“, erklärt Spencer. „Für unsere Marke und die Marken, die wir präsentieren, ist Brera der geeignete Standort.“
Die Edit residiert an der Via Palermo in der Pelota, einer kultigen, 9 Meter hohen Sporthalle. Besucher können sich hier mit den neuesten Produkten ausgewählter Marken – darunter Atelier Areti, Modus und Kalmar – bekannt machen. Die VIP-Lounge der Edit ist das Produkt einer Zusammenarbeit mit Apartment 58. Wer die Vorzüge der Lounge geniesst, wird die Möbel von Modus noch besser kennenlernen, denn die VIP-Zone wurde von Modus ausgestattet. Das gestalterische Gesamtkonzept der Edit stammt von Michael Sodeau.
„Für unsere Marke und die Marken, die wir präsentieren, ist Brera der geeignete Standort“, sagt Deborah Spencer, der Kopf hinter Designjunction, der Schau für Topp-Designlabels, die in Brera 2013 in der einstigen Sporthalle Pelota stattfindet
„Für unsere Marke und die Marken, die wir präsentieren, ist Brera der geeignete Standort“, sagt Deborah Spencer, der Kopf hinter Designjunction, der Schau für Topp-Designlabels, die in Brera 2013 in der einstigen Sporthalle Pelota stattfindet
×Für Agape, den Hersteller von Badeinrichtung, stand ausser Frage, dass Brera der geeignete Standort für die fortwährende Präsenz in der italienischen Design-Hauptstadt ist. Während der Messezeit öffnet Agape die Türen des Showrooms an der Via Statuto weiter als üblich. „Das Quartier ist nicht nur während des Salone, sondern das ganze Jahr über lebendig“, sagt Laura Torchio. Anspruchsvollen Besuchern empfiehlt sie folgende Route: „Beginnen Sie am Corso Como, dem Referenzpunkt für Fashion und Fotografie. Setzen Sie den Weg durch die Via Statuto und Via Solferino fort, wo Sie die wichtigsten Designläden finden, bis Sie die Accademia und die Scala erreichen.“
Die Designmarke Foscarini fühlt sich in Brera ebenfalls heimisch. Ihr neuer Showroom befindet sich an der Via Pontaccio/Via Fiori Chiari. In ihm wird eine Installation von Attilio Stocchi zu sehen sein. „Brera ist das Herz der Stadt – sowohl für Design und Handwerk als auch für Kunst. Deshalb haben wir uns für dieses Viertel entschieden“, erklärt Alessandro Vecchiato, der Foscarini gemeinsam mit Carlo Urbinati besitzt. „Wir wollten nicht bloss einen Showroom kreieren, sondern eine Umgebung schaffen, die Emotionen vermittelt und die Kreativität anregt. Brera hielten wir für den richtigen Standort hierzu.“ Der neue Showroom von Villeroy & Boch am Foro Buonaparte wird der Schauplatz einer Installation sein, in der Kunst und Industrie aufeinandertreffen. Hinter dem Projekt mit dem Titel „LoopArt – Second Glance“ steht der amerikanische Künstler Ebon Heath. Auch der Hersteller ist der Ansicht, dass das Mailänder Quartier ideal zur eigenen Marke passt. „Dank der Präsenz im Brera Design District erhalten wir als Bad- und Wellness-Spezialist Zugang zum Design-Netzwerk und erreichen eine ausgewählte Zielgruppe, namentlich Architekten und Gestalter“, sagt Shamiram Abdullah, die als Marketingmanagerin für die Benelux-Staaten und Italien zuständig ist.
Im Showroom von Magis am Corso Giuseppe Garibaldi werden innovative Designs des Gestalterduos Ronan und Erwan Bouroullec zu sehen sein; Foto Patrick Tomei Neri für Brera Design District 2012
Im Showroom von Magis am Corso Giuseppe Garibaldi werden innovative Designs des Gestalterduos Ronan und Erwan Bouroullec zu sehen sein; Foto Patrick Tomei Neri für Brera Design District 2012
ׄGlücklicherweise ist Brera nicht nur ein Viertel für Fashion“, sagt Sara Bellinzani vom Designhersteller Magis. Im Magis-Showroom am Corso Giuseppe Garibaldi werden innovative Entwürfe der gefeierten Design-Brüder Bouroullec zu sehen sein. „Vielmehr besteht in Brera ein spannender Mix an Läden, die nicht nur industrielle, sondern auch handwerkliche und nachhaltige Produkte verkaufen.“
Das Thema des Brera Design District 2013 ist die Beziehung zwischen Handwerk und Industrie (oder um exakt zu sein: „Der Wert der Qualität in der Reflexion über die handwerkliche Tätigkeit und die industrielle Denkweise“). Das Thema passt hervorragend nach Brera, wo sich die Accademia di Belle Arti und die Pinacoteca befinden. Der Name des Viertels ist seit Jahrhunderten ein Synonym für die schönen Künste und die individuelle Ausdrucksweise der Bohemiens, die ihre eigenen Visionen in anschauliche, materielle Formen übersetzten. Gleichzeitig zeichnete sich die Handwerkskunst vor der Industrialisierung, der Etablierung der Arbeitsteilung und der maschinellen Produktionsprozesse, durch eine ausgeprägt selbstständige und individuelle Art des Denkens, des Arbeitens und der Problemlösung aus. Die sorgfältig erstellten Artefakte waren der persönliche Stolz des Handwerkers und von erlesener Güte – oder anders ausgedrückt: Qualitätsprodukte.
„(Brera) ist nicht nur während des Salone, sondern das ganze Jahr über lebendig“, sagt Laura Torchio von Agape. Ihr Showroom an der Via Statuto ist zur Messezeit noch sehenswerter als üblich; Foto Patrick Tomei Neri für Brera Design District 2012
„(Brera) ist nicht nur während des Salone, sondern das ganze Jahr über lebendig“, sagt Laura Torchio von Agape. Ihr Showroom an der Via Statuto ist zur Messezeit noch sehenswerter als üblich; Foto Patrick Tomei Neri für Brera Design District 2012
×Obwohl das Handwerk zu weiten Teilen von der industriellen Produktion verdrängt worden ist, existiert es selbstverständlich nach wie vor. Heute kommt dem Handwerk innerhalb des industriellen Designprozesses eine neue Rolle zu: Handwerklich gefertigte Produkte weisen einen Mehrwert auf. Sie befriedigen bei einer zunehmenden Zahl von Konsumenten den Wunsch nach Objekten mit einer stärkeren emotionalen Ausstrahlung und sind gleichzeitig auch eine Antwort auf das wachsende Bedürfnis nach nachhaltigen Produkten. Die Brera-Veranstalter fassen es in einem Wort zusammen: Werthaltigkeit. „Die Verlagerung der Produktion und die aufstrebenden Märkte haben den Kostendruck in der globalisierten Welt des Designs massiv erhöht. Die Branche leidet darunter. Über das „Form-Function“-Prinzip hinaus müssen wieder vermehrt Fachkenntnisse in die Gestaltungs- und Produktionsprozesse einfliessen.“
Bei der Designmarke spHaus, die ihre Produkte in Brera im Spazio Theca ausstellt, hält man es für selbstverständlich, dass trotz der industriellen Produktion von Designobjekten weiterhin auf Handwerkstechniken zurückgegriffen wird. „Unser Unternehmen ist darauf aufgebaut“, sagt der Geschäftsführer Filippo Dell’Orto. „Ich habe für spHaus von Beginn weg Projekte entwickelt, bei welchen die Produktion auf beiden Arbeitsweisen basierte: der industriellen und der handwerklichen. Für Aussenstehende mag dies wie ein Novum erscheinen. Für uns in der Region Brianza ist es jedoch Alltag – und die eigentliche Stärke der Unternehmen, die hier ihren Standort haben. Verraten Sie dies bloss nicht China.“
Geberit, der traditionsreiche Hersteller von Sanitärtechnik, kehrt 2013 zum dritten Mal in Folge nach Brera zurück und stellt dieses Mal im Museo Minguzzi aus. Vertiefte Kenntnisse des Handwerks spielen nach der Auffassung von Geberit bei der Innovation von Produkten eine Schlüsselrolle. „Das Thema der diesjährigen Ausstellung von Geberit ist ‚Cloudeas’ – eine Wolke von Ideen. Wir werden die neuesten und innovativsten Ideen präsentieren, die in reale Produkte umgesetzt wurden“, erklärt Alberto Rovati, der Leiter Marketingkommunikation für Italien. „Alle diese Produkte wurden als handwerkliche Erzeugnisse entworfen und anschliessend für die Produktion industrialisiert.“ Die italienische Designmarke Moroso, deren Showroom an der Via Pontaccio durch Patricia Urquiola in eine dynamische Installation mit dem Titel „The Revolving Room“ verwandelt wird, anerkennt ebenfalls das wertsteigernde Potential der Handwerksarbeit und seine Bedeutung auf dem heutigen Markt. „Moroso ist besonders wachsam und empfänglich für traditionelle Techniken, welche die Gegenwart mitbestimmen, indem sich Handwerkskunst und industrielles Denken vermischen“, sagt Mirella Majone. „Das diesjährige Thema in Brera entspricht daher ganz unserer Philosophie.“
Zu den Höhepunkten in Brera zählt die Ausstellung in der Triennale, welche die Arbeit von Pierluigi Ghianda, des Meisters der Handwerkskunst und des Designs, feiert
Zu den Höhepunkten in Brera zählt die Ausstellung in der Triennale, welche die Arbeit von Pierluigi Ghianda, des Meisters der Handwerkskunst und des Designs, feiert
×Eines der diesjährigen Highlights in Brera ist die Ausstellung, welche das Werk von Pierluigi Ghianda, des grossen Meisters der Handwerkskunst und der Gestaltung, feiert. Der Brera Design District organisiert die Ausstellung gemeinsam mit der Triennale di Milano, der Unione Artigiani und der Zeitschrift Ottagono. Studiolabo und die Bottega Ghianda kuratieren die Werkschau, die deutlich veranschaulicht, welch bedeutsame und produktive Beziehungen das Handwerk und die Industrie eingehen können und sollen. Unter dem Titel „The Man Who Signs the Wood“ zeigt die Ausstellung Werke aus den Achtzigerjahren, welche Ghianda in Zusammenarbeit mit einer Reihe von bedeutenden Architekten sowie Möbel- und Produktdesignern erstellte. Die Liste von Ghiandas Kooperationen liest sich wie ein „Who is who“ von Italiens Architektur- und Designgeschichte: Ettore Sottsass, Gio Ponti, Gae Aulenti und die Brüder Castiglioni befinden sich darunter.
Ghianda hat weit mehr als nur Schränke erstellt. Makellose, gefühlvolle Möbelstücke und andere Holzobjekte, unter anderem aus Palisander- und Ebenholz gefertigt, zeigen ein bemerkenswertes Verständnis für die formalen Möglichkeiten der Materialien und ihren sinnlichen Wert. Aldo Colonetti, der Geschäftsführer von Ottagono, wird eine Gesprächsrunde moderieren, die es den Besuchern ermöglicht, vollständig in die Handwerks-/Industrie-Thematik einzutauchen. Die Diskussion findet da statt, wo alle Strassen hinführen: in der Triennale. Vergessen Sie bloss auf dem Weg dahin nicht, bei den vielen inspirierenden Design-Ausstellungen in Brera Halt zu machen. Va bene?
Laura Torchio rät: „Beginnen Sie am Corso Como, dem Referenzpunkt für Fashion und Fotografie. Setzen Sie den Weg durch die Via Statuto und Via Solferino fort, wo Sie die wichtigsten Designläden finden, bis Sie die Accademia und die Scala erreichen“
Laura Torchio rät: „Beginnen Sie am Corso Como, dem Referenzpunkt für Fashion und Fotografie. Setzen Sie den Weg durch die Via Statuto und Via Solferino fort, wo Sie die wichtigsten Designläden finden, bis Sie die Accademia und die Scala erreichen“
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