Jenseits von Klischees: Neuinterpretationen des Chalets
Text von Sophie Loschert
Berlin, Deutschland
18.11.13
Das Chalet war immer schon eng mit dem Wunsch nach einer einfachen Behausung in unberührter Natur verbunden. Dass Ferienhäuser in den Bergen jedoch nicht zwangsläufig einer romantischen Inszenierung von Gemütlichkeit und damit einem überholten Stereotyp des Blockbaus mit auskragendem Satteldach entsprechen müssen, zeigt eine Vielzahl von Projekten weltweit.
Alt und neu im Einklang: Die hellen Holzhäuser in der Siedlung Leis oberhalb von Vals hat Peter Zumthor in der gleichen Blockbauweise gebaut, in der auch schon die altersschwarzen Häuser der Umgebung konstruiert wurden; Foto Ralph Feiner
Alt und neu im Einklang: Die hellen Holzhäuser in der Siedlung Leis oberhalb von Vals hat Peter Zumthor in der gleichen Blockbauweise gebaut, in der auch schon die altersschwarzen Häuser der Umgebung konstruiert wurden; Foto Ralph Feiner
×Ursprünglich kommt der Begriff „Chalet“ aus der Romandie und bedeutet so viel wie „geschützter Ort“. Tatsächlich dienten Alphütten, die Hirten während der Sommermonate als temporäre Aufenthaltsorte nutzten, als Vorbild für den auf dem Reissbrett entworfenen Bautyp.
Die Verbreitung des Blockbaus im gesamten Alpenraum und später auf dem gesamten Globus verläuft parallel zur Entstehung des im 19. Jahrhundert aufkommenden Alpintourismus, bürgte das „Schweizerhaus“ doch für Authentizität und ländliche Idylle. Schnell wurde es vom Refugium der ersten Wintersportler zum Ferienhaus schlechthin.
Die industrielle Vorfertigung von Einzelteilen und konservative Baugesetze führten in der Folge jedoch zu einem Einheitsstil. Spätestens mit der Erbauung von Jumbo-Chalets in bekannten Ferienresorts hat der Blockbau jeglichen Bezug zu seinem bescheidenen Vorgänger verloren und ist dem Vorwurf des Kitschs – zu Recht – ausgesetzt.
Einen wichtigen Beweis, dass heutige Chalets ohne eine Spur von Sentimentalität an alte Bautraditionen anknüpfen können, erbringt Peter Zumthor. Mit den beiden Holzhäusern in Leis, der höchstgelegenen Siedlung der Gemeinde Vals, unweit der bekannten Therme, hat sich das Ehepaar Zumthor einen ganz persönlichen Wunsch erfüllt. Peter Zumthor schreibt: „Annalisa hatte schon immer davon geträumt, in einem Holzhaus zu wohnen. Wenn sie mir davon erzählte, erhielt ich den Eindruck eines intimen Hauses in den Bergen.“
Die Zimmer der Leiser Holzhäuser von Peter Zumthor sind in unterschiedlich grosse Blockeinheiten gegliedert. Raumhohe Fenster gewähren spektakuläre Aussichten in die alpine Bergwelt des gering besiedelten Valsertals; Fotos Ralph Feiner
Die Zimmer der Leiser Holzhäuser von Peter Zumthor sind in unterschiedlich grosse Blockeinheiten gegliedert. Raumhohe Fenster gewähren spektakuläre Aussichten in die alpine Bergwelt des gering besiedelten Valsertals; Fotos Ralph Feiner
×Es sollte nicht bei einem Holzhaus bleiben, denn Peter Zumthor errichtete neben dem 2009 fertiggestellten Unterhus mit einer Gesamtfläche von 150 m2, ein kleineres „Schwesterhaus“: das 128 m2 grosse Türmlihus, das Ende 2013 bezugsfertig ist.
Mit den von der Witterung gezeichneten, altersschwarzen Blockbauten der Gemeinde teilen die hell strahlenden Neubauten von Zumthor nicht nur ihr Material, sondern auch ihr Konstruktionsprinzip. Den einzelnen Block, der den Wohnraum des einfachen Bauernhauses bildete, hat Zumthor jedoch in mehrere unterschiedlich grosse Blockeinheiten, sprich einzelne Zimmer, umgedeutet, die im Grundriss frei angeordnet sind.
Dadurch werden raumhohe Fenster ermöglicht, die einen grossartigen Ausblick in die Berglandschaft bieten. Durch die geschickte Anordnung der einzelnen Räume ergeben sich diverse Blicköffnungen und vielfältige Perspektiven auf das Tal.
Auch Pascal Flammer kombiniert regionale Typologien mit moderner Formsprache. Sein Stöckli im Balsthal stellt eine bemerkenswerte Neuinterpretation traditioneller Bauformen dar. Das Stöckli, ein kleines an einen landwirtschaftlichen Betrieb angegliedertes Gebäude, dient dem Bauern nach der Übergabe des Hofes an seine Nachkommen als Alterswohnsitz.
Für dieses aus Tannenholz gefertigte Haus in Balsthal hat der Architekt Pascal Flammer den regionalen Baustil neu interpretiert. Das Fensterband im Erdgeschoss sorgt für einen fliessenden Übergang von Innen und Aussen; Fotos Ioana Marinescu
Für dieses aus Tannenholz gefertigte Haus in Balsthal hat der Architekt Pascal Flammer den regionalen Baustil neu interpretiert. Das Fensterband im Erdgeschoss sorgt für einen fliessenden Übergang von Innen und Aussen; Fotos Ioana Marinescu
×Durch den Bauauftrag war Flammer an strikte Vorgaben gebunden. Das Gebäude, so die Auflage, sollte sich in die landschaftliche und bauliche Umgebung einfügen. Tatsächlich scheint das 2011 fertiggestellte Haus mit seinem steilen Dach und dunklen Fassaden von Weitem den Bauten der Region zu entsprechen. Tritt man näher heran, erkennt man schnell seine Besonderheit.
Das Erdgeschoss, ein offener, stützenfreier, 80 m2 grosser Raum, ist 75 cm tief in das umliegende Terrain eingelassen und von einem Fensterband umgeben. Dieses reicht von einem umlaufenden Sideboard, das wie das gesamte Haus aus Tannenholz konstruiert ist, bis unter die Decke und lässt den Eindruck entstehen, man befinde sich inmitten der angrenzenden Wiese. Der Übergang zwischen Innen- und Aussenraum könnte nicht fliessender verlaufen.
Über eine Wendeltreppe gelangt man in das Obergeschoss, das durch zwei seitenhalbierende Wände in vier gleich grosse Räume geteilt wird, die durch Schiebetüren miteinander verbunden sind. Durch raumhohe Fenster an den Stirnseiten kann die Landschaft diesmal aus erhöhter Perspektive betrachtet werden.
Anders Marte.Marte Architekten: Sie überzeugen durch eine eigenwillige Deutung des traditionellen Ferienhauses. Ihr 2011 in Laternsertal in Voralberg fertiggestelltes Turmhaus mit einer Grundfläche von 102,6 m2 bezeichnen sie als „Schutzhütte“ und greifen somit einen wesentlichen Gedanken des Chalets auf.
Vom Klischee des Chalets ist das von Marte.Marte Architekten entworfene Ferienhaus in Laternsertal weit entfernt. Den Urgedanken des Chalets als einem geschützten Ort birgt der skulpturale Betonbau aber dennoch in sich; Fotos Marc Lins Photography
Vom Klischee des Chalets ist das von Marte.Marte Architekten entworfene Ferienhaus in Laternsertal weit entfernt. Den Urgedanken des Chalets als einem geschützten Ort birgt der skulpturale Betonbau aber dennoch in sich; Fotos Marc Lins Photography
×In Material und Form beschreiten sie jedoch neue Wege. Bewusst haben sie sich für Beton entschieden, um die abstrakte, skulpturale Form des Baus und sein komplexes Spiel mit Innen- und Aussenräumen realisieren zu können. Dieses wird bei der Gestaltung einer Aussenfläche, die als Negativraum in das Volumen eingelassen ist und die die Geschlossenheit der Baumasse aufbricht, auf die Spitze getrieben. Die zwei tragenden Eckkörper dieser als Terrasse genutzten Freifläche rahmen die Landschaft bildhaft.
Die Ambivalenz zwischen Öffnung und Schliessung in Bezug auf das Gelände ist schon von weitem sichtbar. Aus der Ferne wirkt das Turmhaus hermetisch gegen den Aussenraum abgeschlossen, wie ein Felsen, der am Berghang ruht. Die Anmutung von Stein wurde durch die Bearbeitung der Betonwände mit einem Schremmhammer erzeugt. Somit vermittelt das Haus ein wahres Gefühl von Geborgenheit und Schutz vor Schnee und Kälte. Im Inneren hingegen ergibt sich durch die verschieden grossen quadratischen Fenster und nicht zuletzt die integrierte Aussichtsplattform ein phänomenaler Blick auf das gegenüberliegende Bergmassiv.
Ein Blick nach Nord- und Südamerika zeigt, dass auch hier interessante Neuinterpretationen des Chalets zu finden sind. In der faszinierenden Umgebung der chilenischen Anden, nahe des Wintersportorts Portillo, liegt auf einer Höhe von 2990 Metern das Chalet C7 von Max Núñez und Nicolás del Rio (DRN Architects). Es schmiegt sich an den steilen Südhang der Inca-Lagune und ist von einem oberhalb gelegenen Hotel aus nicht sichtbar. Dezent fügt es sich in die schroffe Umgebung.
Das Chalet C7 von DRN Architects liegt in den chilenischen Anden auf rund 3000 m ü. M. und fügt sich dezent ins Gelände ein. Die Fensterfront im Obergeschoss bietet einen einmaligen Ausblick; Fotos Erieta Attali (oberstes Bild), Felipe Camus (oben)
Das Chalet C7 von DRN Architects liegt in den chilenischen Anden auf rund 3000 m ü. M. und fügt sich dezent ins Gelände ein. Die Fensterfront im Obergeschoss bietet einen einmaligen Ausblick; Fotos Erieta Attali (oberstes Bild), Felipe Camus (oben)
×Das Chalet besteht aus zwei Volumina, einem Steinsockel und einer leichteren Stahl- und Glaskonstruktion im Obergeschoss. Das untere Steingehäuse verankert das Gebäude im felsigen Hang. Zudem bietet es den Bewohnern einen der rauen Witterung trotzenden Schutzraum. Das Obergeschoss ist im Gegensatz dazu als fliessender Raum angelegt, in dem Wohnraum, Küche und Terrasse ineinander übergehen. Durch die gegen Norden gerichtete Fensterfront bietet sich ein grandioser Blick auf den See und die Berge Tres Hermanos.
Aufgrund der immensen Schneemassen, die sich bis zu sechs Meter auf dem Dach türmen können, muss die Stahlkonstruktion des Obergeschosses einem ungewöhnlich hohen Gewicht standhalten. Diese Funktion der Balken und Stützen wird im Inneren des Hauses bewusst sichtbar gemacht: Sie gliedern den offenen Raum nicht nur, sondern verweisen durch ihre starke Präsenz an die enorme Schneelast, die sie zu tragen vermögen.
Ebenfalls in Chile bauten DRN Architects 2008 das Refugio Los Canteros, ein Mehrfamilienhaus, das gleichzeitig als Schutzraum und Aussichtsplattform auf die Bergkulisse von Farellones dient. Auch bei diesem Projekt entschieden sie sich für eine kubische Form. Diese wird jedoch durch verschiedene Elemente, Treppen und Glaskästen, die über ihre Aussenränder hervorkragen, spielerisch gebrochen. Kleine Fenster führen den Blick gezielt auf bestimmte Punkte in der Landschaft, wohingegen das gesamte Panorama von den Glaskästen aus betrachtet werden kann.
Der kubische Baukörper des Mehrfamilienhauses Refugio Los Canteros in Chile wurde von DRN Architects mit spielerischen Elementen ergänzt – wie den Treppen und Glaskästen, die uneingeschränkte Aussicht ins Panorama gewähren; Foto Felipe Camus
Der kubische Baukörper des Mehrfamilienhauses Refugio Los Canteros in Chile wurde von DRN Architects mit spielerischen Elementen ergänzt – wie den Treppen und Glaskästen, die uneingeschränkte Aussicht ins Panorama gewähren; Foto Felipe Camus
×Auch die kanadischen Architekten des Atelier Kastelic Buffey (AKB) liessen sich bei ihrem Entwurf für das Maison Glissade in Collingwood, Ontario von landwirtschaftlichen Nutzbauten, den nordamerikanischen „barns“, inspirieren.
Das für eine wintersportbegeisterte Familie konzipierte zweistöckige Wochenendhaus liegt am Rand einer Skipiste. Sein Name weist nicht nur auf das gemeinsame Faible der Familie, das Gleiten auf dem Schnee, hin, sondern gibt Aufschluss über seine Konstruktion.
Das obere Geschoss schiebt sich entlang der Längsachse über das Erdgeschoss und erzeugt eine tiefe Vorkragung auf der einen und eine breite Plattform auf der anderen Seite des Hauses. Letztere ist vom zweiten Geschoss aus zugänglich und wird als Balkon genutzt.
Das Maison Glissade in Collingwood, Ontario liegt am Rand einer Skipiste. Der Entwurf der Architekten vom Atelier Kastelic Buffey ist an landwirtschaftliche Nutzbauten, die sogenannten „barns“ angelehnt; Fotos Shai Gil
Das Maison Glissade in Collingwood, Ontario liegt am Rand einer Skipiste. Der Entwurf der Architekten vom Atelier Kastelic Buffey ist an landwirtschaftliche Nutzbauten, die sogenannten „barns“ angelehnt; Fotos Shai Gil
×Betritt man das Haus, kommt man zunächst in den „mud room“ einen grosszügig gestalteten Vorraum, der dem hiesigen Skikeller entspricht. Dahinter liegen drei einfach gehaltene Schlafzimmer, zwei Badezimmer und ein grösseres Elternschlafzimmer. Über eine Treppe gelangt man in das Obergeschoss, das in einen Koch-, Ess- und Wohnbereich unterteilt ist und das Herz des Hauses bildet. Die verglasten Stirnseiten des Obergeschosses unterstreichen den offenen Charakter dieses Stockwerks. So kann das Treiben auf der nahen Skipiste noch im Haus mitverfolgt werden.
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Die Integration des Außen- in den Innenraum spielt bei allen Projekten eine entscheidende Rolle. Die Naturkulisse wird durch Blicköffnungen und Rahmungen inszeniert und geschickt in den Innenraum einbezogen. Gleichzeitig bleibt aber der Grundgedanke der Alphütte, Schutz vor Kälte, Regen und Schnee zu bieten, bestehen.
Dass diese Schutzfunktion nicht zwangsläufig in einer urigen Hütte im Holzstil Ausdruck finden muss, zeigen vor allem Projekte in Südamerika, die sich entschieden von der europäischen Vorstellung von Heim und Heimeligkeit lösen. Vielmehr ist hier eine von der Moderne geprägte Vorliebe für rohe Materialien erkennbar. Diese rigorosen Neuinterpretationen mögen Anstoß gewesen sein, sich auch in der Heimat des Chalets wieder mit dem traditionellen Bautyp auseinanderzusetzen und neue Deutungen zu wagen.
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