Alle sprechen vom Himmel über Brasília. Der sei einfach unvergleichlich – so weit, so hoch, so blau!

Supremo Tribunal Federal (Oscar Niemeyer 1958–1960): filigrane Linienführung von Sockel und Pfeilern.

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Supremo Tribunal Federal (Oscar Niemeyer 1958–1960): filigrane Linienführung von Sockel und Pfeilern.

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Tatsächlich hat man mir nicht zu viel versprochen: Bei der Ankunft im April ist das Wetter strahlend, bilderbuchhafte Wolkengebilde zieren das Firmament. Es bietet sich an, als Erstes den von Lúcio Costa entworfenen Fernsehturm in der Mitte der Planstadt zu erklimmen. Aus luftiger Höhe betrachtet wird schnell klar: Weniger der Himmel ist hier anders, denn die konzeptionelle Stadtanlage. Die ungewöhnlich flache Ausdehnung und luftige Bebauung dürfte Einwohnern und Besuchern Anlass zur Wahrnehmung eines besonders himmlischen Flairs geben.

Plano Piloto: Hinweis-tafeln erklären Lúcio Costas Stadtkonzept.

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Plano Piloto: Hinweis-tafeln erklären Lúcio Costas Stadtkonzept.

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1957 gewann Lúcio Costa den Wettbewerb zur Gestaltung der neuen Hauptstadt Brasi-liens. In letzter Minute hatte er seinen Vorschlag mit Text und Skizzen abge-geben. Unter den 26 eingereichten Pro-jekten brasilianischer Architekten ver-mochte sein augenscheinlich schlichter, doch von deutlichem Gestus geprägter «Plano Piloto» (Leitplan) die internati-onal besetzte Jury zu überzeugen. Die Stadt müsse von Anfang an einen Haupt-stadtcharakter vorweisen, notierte Costa: Der Zweck der Stadtanlage sei würde-voll und vornehm umzusetzen. Mit der Grundidee zweier sich kreuzender Ach-sen sollte die zukünftige Kapitale einen monumentalen Ausdruck erhalten. Ein elaboriertes System zur Anordnung von Arbeits- und Wohnbereichen würde für Ordnung und Effizienz sowie gleichzeitig für Lebendigkeit und Vergnügen sorgen. Denn abgesehen von Regierung und Ver-waltung sprach der Architekt Brasília auch die Aufgabe zu, im Laufe der Zeit in puncto Kultur für das Land bedeutsam zu werden.

Knapp 60 Jahre später rauscht der Ver-kehr auf jenen Hauptstrassen, die Costa einst mittels zweier Bleistiftlinien ima-ginierte. Die 360-Grad-Perspektive vom Fernsehturm ist umwerfend. Eingebettet in eine lieblich anmutende, leicht hügelige Landschaft, liegt die Stadt, die nach dem weltberühmten Entwurf gestaltet wurde. Die unverwechselbare Stadtform
– oftmals verglichen mit einem Flugzeug
– ist in vollem Ausmass zu bewundern. Die beidseitig aus je sechs Fahrbahnen bestehende, 5 km lange schnurgerade Verkehrsachse Eixo Monumental (Mo-numentalachse) führt im Osten zum Regierungsviertel. Vor der Kulisse des künstlich aufgestauten Sees Paranoá ragen die Scheibenhochhäuser mit den Büros der Abgeordneten nach Oscar Niemeyers markantem Entwurf für den Nationalkongress heraus. Entlang der geschwungenen Nord-Süd-Traverse Eixo Rodoviário (Achse zum Busbahnhof) rei-hen sich – zwei Flügeln gleichend – über 12 km die als «Superquadra» bezeichne-ten Wohnviertel aneinander, gefüllt mit unzähligen Apartmentblocks. Dichte Hochhaussiedlungen, die sich entfernt im Dunst abzeichnen, sind ein Hinweis darauf, dass der Zuzug in den Bundesdi-strikt anhält und an der Peripherie nicht mehr nur ärmere Schichten, sondern auch die Mittelklasse wohnt: Fast drei Millionen Menschen leben mittlerweile in Brasília D. F. (Distrito Federal). Doch haben gerade einmal um die 10 Prozent einen Platz im Kerngebiet des Flächen-nutzungsplans von Lúcio Costa ergattert.

Eixo Monumental: Roberto Burle Marx ge-staltete die Grünanlagen.

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Eixo Monumental: Roberto Burle Marx ge-staltete die Grünanlagen.

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Die Verlegung der Hauptstadt Brasiliens ins Landesinnere wurde 1891 mit Beendi-gung der Monarchie in der Verfassung der Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien festgeschrieben. Das Ziel war es, das Zentrum des Landes zu er-schliessen und der Vormachtstellung der Grossstädte an der Küste entgegenzuwir-ken. Zu den vielschichtigen Gründen für die jahrzehntelange Verzögerung zählen der Mangel an finanziellen Ressourcen, der Widerstand der Oberschicht in Rio de Janeiro und – verkürzt ausgedrückt – politische Wirren. Die finale Umsetzung des Projekts verdankt sich dem Engage-ment des 1955 gewählten Präsidenten Juscelino Kubitschek de Oliveira. Unbe-irrt verfolgte JK (wie er in Brasília meist genannt wird) sein Wahlversprechen, auf einem Plateau auf 1150 m mittlerer Höhe den «Marsch ins Innenland» endlich umzusetzen. Mit den Aufgaben für die Architektur betraute er frühzeitig Oscar Niemeyer. Für die eigentliche Baumass-nahme verstand er es, Menschen aus al-len Teilen Brasiliens zur Mitarbeit an der nationalen Aufgabe zu motivieren.

Brasília hat etliche Superlative vorzuwei-sen. In einer Rekordzeit von nur drei Jah-ren wurden die wichtigsten Gebäude und die Grundzüge des Strassennetzes fertig-gestellt. Es ist die jüngste Stadt weltweit, deren Planungskonzept der Status eines Unesco-Weltkulturerbes zugesprochen wurde – und das gerade einmal 27 Jahre nach der Einweihung. Von jenen auf Pi-loten schwebenden Wohnblöcken, die als Minivarianten von Le Corbusiers Kon-zept der Unité d’Habitation interpretiert werden dürfen, stehen hier weit über tausend. Auch soll sich seit kurzem in ei-ner der Satellitenstädte Brasiliens grösste Favela befinden. Und die einschliesslich Grünstreifen 250 m breite Eixo Monumental rangiert im internationalen Ver-gleich von Strassenbreiten auf Platz eins. Aus Lúcio Costas Sicht hatte sich das Automobil schon in den 1950er-Jahren zu einem «Familienmitglied» entwickelt, weshalb er für Brasília ein ausgefeiltes «geordnetes Verkehrsgerippe» erdachte. Von oben schauend, empfinde ich gleich-zeitig Faszination und Irritation. Die Stadtanlage weckt höchst ambivalente Gefühle. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit Jean-Paul Belmondo hier über die staubige Baustelle jagte und Brasílias avantgardistische Kulisse Ein-gang in die Filmgeschichte fand. Nach wie vor strahlt die Makroebene etwas von Futurismus aus. Das Bedürfnis der Erbauer, formal Aufbruch, Fortschritt und Moderne symbolisch in die rote Erde zu stemmen, ist deutlich zu erkennen. Allerdings erscheint der perfekt durch-dachte Städtebau entlang landebahnarti-ger Monumentalachsen auch surreal, und unweigerlich stellt sich die Frage, wie in diesem von Distanzen geprägten Setting soziales Leben entstehen konnte. Wiede-rum wirkt die Mikrostruktur aus der Vo-gelperspektive verspielt: Die schwungvol-len Strassenzubringer in Kleeblattform lassen mich an Carrera-Bahnen denken, die Masse von puristischen Apartment-häusern an ein Lego-Land. Es gilt dem-nach, ein Spannungsfeld von imposant und niedlich zu erkunden. Also nichts wie runter, um in das scheinbar bizarre urbane Geflecht einzutauchen und zu schauen, wo es in der vom Auto dominier-ten Stadt menschelt. Und siehe da: Eben-erdig zeigen sich gleich Emotionen. Zu Füssen des Fernsehturms, inmitten des von Roberto Burle Marx gestalteten Park-streifens mit Springbrunnen, flankieren das Wort «eu» (ich) und der Stadtname in gigantischen Lettern eine rote Herzform. Menschen halten beim Flanieren inne. Ob Jung oder Alt – alle machen Gruppen-fotos und Selfies mit dem Schriftzug: «Ich liebe Brasília».

Alternativen zur Fortbewegung mit dem Automobil: am Fernsehturm (oben) und im Busbahnhof (unten)

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Alternativen zur Fortbewegung mit dem Automobil: am Fernsehturm (oben) und im Busbahnhof (unten)

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Zahlen und Buchstabenkürzel definieren den Stadtraum. Meine Unterkunft liegt im SQN 702 (Superquadra Norte), unweit der Strasse W3-Norte, die parallel zur Eixo Rodoviário verläuft. Mit dem Bus gleite ich entlang von Unterführungen und Kurven bis zum Busterminal, dem Zentrum der Stadt. Endstation. Und nun? Unzählige Bahnsteige, unzählige Busse. Totale Betriebsamkeit: Hunderte von Menschen laufen kreuz und quer. Ich möchte auf die Südseite der Eixo Monumental, und eigentlich ist der von Oscar Niemeyer gestaltete Kulturkom-plex einschliesslich Brasiliens angeblich schönster Kirche – der Catedral Metro-politana – gar nicht weit. Also wage ich den Versuch als Fussgängerin. Stehe Mi-nuten später an der Strassenkante und merke: Eine Überquerung der sechs Spu-ren ist nur mit einem ordentlichen Spurt zu bewältigen. Drüben wiederum über-rascht mich die Kapitale, denn ich stol-pere über eine Fahrradmietstation. Eine neue Form der Fortbewegung scheint sich anzubahnen.

Vorbei an Nationalbibliothek, National-museum und Kathedrale führt der Weg weiter in Richtung Regierungsviertel. Links vom Fussweg brausen Unmen-gen an Autos vorbei, rechts tauchen die seriell aufgestellten Ministerien auf. Unter Bäumen Verkaufsstände: frische Chips, Açaí-Eiscreme, Kaffee, Lotterie-lose. Endlich rückt der Nationalkongress näher. Angeblich fielen in der Entwurf-sphase bei einem Essen zwei Orangen-hälften auf den Boden: die eine mit der Schnittfläche nach oben, die andere um-gekehrt. Das Motiv soll Oscar Niemeyer als Inspiration für die riesigen Kuppeln des zweigeteilten Hauses gedient haben. Zwischen Wolkenabschnitten betont mo-mentweise intensives Sonnenlicht die Plastizität der konkaven und konvexen Dachschalen für den Senat und das Ab-geordnetenhaus. Das Ensemble aus fla-chem Querbau mit zwei Kuppeln sowie zwei schlanken Türmen ist mit seiner Reflektion im Wasser einfach fotogen. Im halbstündlichem Takt finden Führungen statt, kontinuierlich gehen brasilianische Touristen aus und ein: Offensichtlich ist der Besuch ein nationales Muss.

Gewissermassen rückseitig liegt der ei-gentliche Platz der drei Gewalten, flan-kiert von Oberstem Gerichtshof und dem Amtssitz für die Präsidenten. Mittig ist unterirdisch ein Ausstellungsraum zum Werk von Lúcio Costas eingerich-tet worden. Schülergruppen haben dort das gigantische Stadtmodell begutachtet. Nun lassen sie sich draussen nieder. Eis-verkäufer nähern sich, die Lehrerinnen machen Fotos mit ihren Tablets. Die At-mosphäre im Zentrum der Macht ist le-bendig und friedlich. Einzig eine kleine Demonstration, die sich gegenüber dem Gerichtshof zu formieren beginnt, ver-weist darauf, dass in diesen Tagen das Land von einer Krise um die Amtsenthe-bung der Präsidentin erschüttert ist.

Praça dos Três Poderes: Oscar Niemeyers Aussenministerium (oben) und der Nationalkongress (unten) wurden am 21. 4. 1960 eingeweiht.

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Praça dos Três Poderes: Oscar Niemeyers Aussenministerium (oben) und der Nationalkongress (unten) wurden am 21. 4. 1960 eingeweiht.

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Text und Fotos: Bärbel Högner

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