Unter der Leitung der Architekten Alfred Grenander und Peter Behrens, der die Station Moritzplatz entwarf, entstanden zwischen 1927 und 1930 einerseits verkehrstechnisch noch immer einwandfrei funktionierende Zweckbauten.

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Licht und Farbe im Berliner Untergrund | Aktuelles

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Wenn wir unsere Besucher nach der üblichen „Berlin-ist-cool-und-sexy-Tour“ noch einmal so richtig metropolenmäßig durchschütteln wollen, fahren wir mit ihnen ein Stück auf der U-Bahnlinie 8. Auf dieser Linie, die unterirdisch Wedding, Mitte, Kreuzberg und Neukölln verbindet, treffen wir die höchste Dichte von Kampfhunden, stark parfümierten Bodybuildern, die gern ihre geölten tätowierten Oberarme zur Schau stellen, spindeldürren Junkies mit flackerndem Blick, tiefverschleierten Frauen, die mit Kinderwagen und proppenvollen Discountertüten balancieren, Gangs aus rotzfrechen testosterongestörten Halbstarken und biertrinkende Obdachlose, die nach ihrer Gesichtsfarbe zu urteilen monatelang keine Sonnenlicht gesehen haben. Der Geruch von Schweiß, Urin, Dreck, Bier und altem Imbißfett scheint sich nicht nur in undefinierbaren Pfützen materialisiert zu haben – doch durch welche Räume fährt diese Schmuddelbahn! Die U8, ein zusammenhängendes Ensemble aus 15 Stationen, wird zu Unrecht wie ein ungeliebtes Stiefkind vernachlässigt.

U-Bahn Station Rosenthaler Platz, Berlin Mitte

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U-Bahn Station Rosenthaler Platz, Berlin Mitte

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Unter der Leitung der Architekten Alfred Grenander und Peter Behrens, der die Station Moritzplatz entwarf, entstanden zwischen 1927 und 1930 einerseits verkehrstechnisch noch immer einwandfrei funktionierende Zweckbauten, doch andererseits auch architektonische Räume, die in aller formalen Reduktion herausragende Beispiele für das sogenannte Neue Bauen darstellen. Einige der Stationen sind räumlich einfache überlanggestreckte Quader, andere wie z.B. Hermannplatz prächtige hohe Hallen mit imposanten Freitreppen, und Alexanderplatz ist ein Paradebeispiel für die Organisation mehrerer Linienkreuzungen bei übersichtlicher Verkehrsführung durch dielenartige Zwischenebenen.

U-Bahn Station Alexanderplatz, berlin Mitte

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U-Bahn Station Alexanderplatz, berlin Mitte

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Für die Verkleidung der Wände wurde u.a. aus hygienischen Gründen Baukeramik eingesetzt, doch schon die Wahl der Farben ist ein Fest für die Augen: intensiv leuchtendes Kobaltblau, Blaugrün mit tintenblauer Glasur, Schwefelgelb gegen beigegrauen matten Schimmer, Creme mit ganz hellem Gelbgrün, Altrosa mit Dunkelbraun. Die Farbreflexe und Glasureffekte variieren von Station zu Station, und Peter Behrens’ Moritzplatz weckt gar Assoziationen an Perlmutt. Gerade den Stationen zwischen Moritzplatz und Voltastraße kommt dabei zu Gute, dass sie aufgrund der Berliner Teilung von 1961 bis 1989 als Gespensterbahnhöfe ohne Halt von den West-Zügen durchfahren wurden – die im Dämmerlicht patroullierenden DDR-Soldaten hatten anderes im Sinn als durch kontinuierliche Reparatureingriffe eine schleichende Verschlimmbesserung und letztendlich Zerstörung der originalen Bausubstanz zu verursachen.

Architekt Alfred Grenander

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Architekt Alfred Grenander

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Der Kunsthistoriker Christoph Brachmann hat basierend auf einem denkmalpflegerischen Gutachten eine sorgfältig recherchierte und nahezu umfassende Dokumentation der U-Bahnlinie 8 vorgelegt. Er analysiert dabei über die U8 hinaus die Geschichte der Berliner U-Bahn mit ihren Gesellschaften, Architekten und sonstigen Protagonisten aus städtebaulicher, verkehrstechnischer, soziopolitischer wie architektonischer und kunsthistorischer Sicht. Ebenfalls wird schonungslos festgehalten, wie gerade bei der U8 bei Reparatur- und Instandhaltungsmaßnahmen der jetzigen Betreibergesellschaft BVG durch Nachlässigkeit und mangelnden Respekt wesentliche Details verflacht, verpfuscht oder durch überflüssige Applikationen ersetzt werden und ursprünglich sorgfältig komponierte Raumwirkungen unwiederbringlich gestört sind. Die ausgezeichneten Fotos von Gisela Kohrmann aus der „Projektgruppe Licht + Farbe“, die in dieser Rezension aus rechtlichn Gründen leider nicht veröffentlicht werden dürfen, sind so leider nicht nur höchst anschauliche Illustrationen zu Christoph Brachmanns Text, sondern schon wieder für sich eigenständige zeithistorische Dokumente.

Wie schön wäre es, wenn das "neue" Berlin neben den aktuell in der Diskussion stehenden Verkehrsbauten wie Hauptbahnhof, neuem internationalen Flughafen und Kanzler-U-Bahn auch die im Alltag beinahe unsichtbaren Verkehrsbauten des alten "neuen" Berlin pflegen und hegen würde…


Christoph Brachmann
292 Seiten, 251 Abbildungen,
24,0 x 27,0 cm, gebunden,
Gebrüder Mann Verlag Berlin 2003
Preisempfehlung des Verlags:144,00 CHF, 88,00 EUR
ISBN 978-3-7861-2477-1 - deutsch