Meilenweit weg von der Goldmedaille: Der umstrittene Super-Turm für die olympische Spiele in London 2012
Text von Tim Abrahams
London, Großbritannien
22.04.10
Vor kurzem präsentierte Londons Oberbürgermeister Boris Johnson den Entwurf des 115 Meter hohen Turmes, der 2012 neben dem neuen Olympia-Stadion der Stadt stehen soll. Das Projekt des bekannten Künstlers Anish Kapoor erntete sowohl von der Presse als auch von der Öffentlichkeit ungehaltene Kritik. .Tim Abrahams, Architekturkritiker, Londoner Bürger und einer der wenigen Verfechter des 'Orbit'-Turmes, erklärt uns warum.
Der Erzbischoff von Canterbury, Englands höchster Kleriker, attestierte ihm sarkastisch den ‘höheren Zweck, nichts Besonderem zu dienen…’: Trotzdem bleibt der ,Skylon’ eines der bedeutendsten städtebaulichen Kunstwerke in der Geschichte Grossbritanniens. Die lange schmale Ellipse aus Stahlgitterwerk, die von Spannseilen gehalten wurde, sollte zum vertikalen Wahrzeichen des 1951 stattfindenden ,Festival of Britain’ werden und fand schnell den Weg in die Herzen der britischen Bevölkerung.
Wie eine Träne am Firmament erhob sich der Skylon zur damals wie heute spektakulären Höhe von 90 Metern empor und drückte den Aufschwung und Optimismus der Nachkriegszeit aus – ein Emblem, das auch die Zeit der ,High-Tech’ Ästhetik einläutete, welche die architektonische Avantgarde Grossbritanniens für den Rest des Jahrhunderts dominieren sollte. Seine Heraufbeschwörung einer neuen, verheissungsvollen Zukunft war so stark, dass der erzkonservative Winston Churchill das von der Labour Party errichtete Monument nach seiner Wiederwahl 1952 sofort zerstören liess.
Rendering des von Ansih Kapoor entworfenen ,Orbits',
Rendering des von Ansih Kapoor entworfenen ,Orbits',
×Als der Orbit, der vom Künstler Anish Kapoor und dem Ingenieur Cecil Balmond entworfene 115 Meter hohe olympische Turm Anfang April enthüllt wurde, stiess er mehrheitlich auf Ablehnung. Kritisiert wurde die offenbare Bedeutungslosigkeit und gigantische Grösse der Skulptur, die als bleibendes Bauwerk direkt neben dem für die Olympischen Spiele gebauten Stadion stehen würde. Kapoor beschrieb den Turm als ,ein Objekt, das aus jeder Perspektive anders erscheint’ und ,dass zu seinem Begreifen eine Begehung um das Objekt herum und... eine Erforschung von oben bis unten’ notwendig sei. Es scheint, als ob die Briten einer Kunst, die keine konkrete Bedeutung hat, immer noch kritisch gegenüberstehen.
Jede Ankündigung eines neuen Gebäudes wird in der modernen Medienwelt von einer Computer-Visualisierung illustriert. Ein ungebautes, dreidimensionales Projekt muss in einer digitalen Grafik gezwungenermassen auf ein computergeneriertes, zweidimensionales Bild reduziert werden. Gerade die Kritiker des Projekts haben sich auf das zweidimensionale Bild des Kunstwerkes gestürzt, das von der Ingenieurfirma Ove Arup für die Pressekonferenz erstellt wurde. Die Praxis, ein Projekt durch Computer-Renderings verständlicher zu machen, hat sicher der Realisierung einiger aussergewöhnlicher Architekturprojekte den Weg geebnet, doch der Massstab und die Nuancen einer komplexen Struktur können mit solchen Grafiken nur schwer verdeutlicht werden. Das von Kapoor und Balmond präsentierte physische Modell war hingegen viel überzeugender: Hier liegt eine Struktur vor, die sich nicht mit einem Blick erfassen lässt, ein Werk, dessen eingehende Betrachtung fesseln kann.
Statt Stabilität und Standhaftigkeit auszustrahlen, spielt die Konstruktion dramatisch mit dem Anschein, statisch instabil zu sein.
Enthüllung des Orbit-Modells an der Londoner Pressekonferenz im April 2010, Foto James O. Jenkins
Enthüllung des Orbit-Modells an der Londoner Pressekonferenz im April 2010, Foto James O. Jenkins
×Ganz offensichtlicher Widerstand erregte offenbar auch die Vorstellung, dass ein mit einem Markennamen versehenes Kunstwerk im Herzen des olympischen Parks stehen soll.
Dies fördert einen tief verhafteten Widerwillen gegen ein Werk zutage, das zwar in seiner Ästhetik keine offensichtliche politische Bedeutung hat, jedoch trotzdem politisch motiviert ist. Boris Johnson, der Oberbürgermeister von London, ist nämlich der Handlanger des Projektes, dessen voller Name ArcelorMittal Orbit ist. Johnson hat den Orbit sogar nachträglich in die für seine Widerspenstigkeit bekannte ODA (Olympic Delivery Authority) eingebracht, welche die Infrastruktur für die Olympischen Spiele bereits fixiert hatte. Boris Johnson schreckten jedoch auch kleine Budgets und Deadlines nicht davon ab, vielmehr brüstete er sich damit, Lakshmi Mittal, den Geschäftsführer des internationalen Stahlkonzerns, in einer Garderobe in Davos festgenagelt zu haben. ,Es wäre übertrieben zu behaupten, dass unsere Unterhaltung nur 1 Minute gedauert hat. In Wahrheit war es eine 45 sekündige Konversation,’ witzelte der Bürgermeister. Das Ergebnis der kurzen Verhandlung: Die Skulptur wird während der Olympischen Spiele mit Werbetafeln des Konzerns gepflastert sein – die danach entfernt werden, wie der Bürgermeister versichert.
Die Art und Weise, wie die Auswahl des Turmes durchgeführt wurde, fand noch weniger Anklang in der Öffentlichkeit: Ohne Vorwarnung wurde der Turm plötzlich in Johnsons Büro enthüllt. Anstatt den normalen Weg über ein offenes Auswahlverfahren zu nehmen, wurde ein geschlossener Wettbewerb durchgeführt und die Projekte dann von einer Reihe an Kunst-Grössen juriert, die statt objektiv zu sein ein persönliches Interesse hatten. Mehr Glück als Verstand führte zur Auswahl dieses vielversprechenden Beitrags. Sollte das Projekt ein Flop werden, bleibt weder den Politikern noch kulturellen Persönlichkeiten wie Sir Nicholas Serota von der Tate viel Spielraum zur Rechtfertigung. Auch wenn Anwälte bereits versuchen herauszufinden, wie man die Vergabe-Richtlinien umgeht, können Johnson und seinen Lobby nur hoffen, dass das Werk in künstlerischer Hinsicht erfolgreich ist. In gewisser Weise haben sie sogar Glück, weil die anderen von der ODA in Auftrag gegebenen Kunstwerke unauffällig in das Gelände oder Gebäude integriert sind und guten Gewissens als sehr bescheiden bezeichnet werden können.
Londons Oberbürgermeister Boris Johnson, der CEO des ArcelorMittal Konzerns Lakshmi Mittal, der Künstler Anish Kapoor und der Ingenieur Cecil Balmond mit dem Modell des ,Orbits'; Foto James O. Jenkins
Londons Oberbürgermeister Boris Johnson, der CEO des ArcelorMittal Konzerns Lakshmi Mittal, der Künstler Anish Kapoor und der Ingenieur Cecil Balmond mit dem Modell des ,Orbits'; Foto James O. Jenkins
×Darüber hinaus sind Kapoor und Balmond ein erfolgversprechendes Team: Eines Ihrer bekanntesten Gemeinschaftsproduktionen war eine Installation in der Turbinenhalle der Tate Modern: ,Marsyas’ war eine gigantisches, trompetenförmiges Werk, das aus drei Stahlringen bestand, die mit einer PVC-Haut überzogen wurden. Zwei der Ringe befanden sich vertikal aufgestellt an den Enden der Halle. Der dritte wurde horizontal von der Decke abgehängt, genau auf die Höhe der Fussgängerbrücke. So entstanden drei grosse, schlundartige Öffnungen, deren Relation ein spannendes räumliches Zusammenspiel zwischen der Vertikale und der Horizontale generierten.
ArcelorMittal wird das Olympische Projekt mit 1400 Tonnen Stahl sponsern. Lässt man den Blick am Profil der Skulptur entlang wandern, bemerkt man, wie der quadratische Querschnitt seine Grösse verändert und um seine Achse rotiert. Plötzlich beginnt man zu erahnen, dass die Beziehung zwischen Material, Künstlern und Ingenieuren nicht zufällig entstand. Der Turm dreht und schraubt sich in einer eigenen Logik empor, feiert seine Virtuosität und bleibt auf eine Art jedoch einfach ein wenig profan.
Rendering des ,Orbits', der fristgerecht für die Olympischen Spiele in London 2012 erstellt werden soll
Rendering des ,Orbits', der fristgerecht für die Olympischen Spiele in London 2012 erstellt werden soll
×Mittal, Kapoor und Balmond wurden in früheren englischen Kolonien geboren: Erstere in Indien, letzterer in Sri Lanka. Alle drei sind führende Persönlichkeiten in ihren jeweiligen Disziplinen und Bürger der Stadt London. Das britische Empire brachte Skulpturen hervor, in denen steinerne Pferde omnipräsent waren - der Orbit hingegen ist ein postimperialistisches Monument, das eine Vielzahl von Interpretationmöglichkeiten und Sichtweisen bietet.
Die Stabilität der scheinbar instabilen Form wird durch zahlreiche Berührungspunkte der statischen Teile generiert. Der Orbit ist ein Monument, das der multikulturellen Stadt London mit seiner grossen Bandbreite an Sprachen, Kulturen und Ethnien entspricht: Denn auch die Stadt ist eine aufregendes, um Stabilität bemühtes Gefüge von 7 Millionen Individuen, die von einer überraschenden, manchmal auch widerwilligen Toleranz zusammengehalten wird. Der Werdegang des Projekts ist wenig demokratisch, jedoch ist wenigstens seine Aussage eine ehrliche Geste, die an die Menschen der Stadt gerichtet ist.
Wenn man bedenkt, dass der Wiederaufbau des Skylons eine ernsthaft in Erwägung gezogene Alternative dargestellt hätte, stellt sich die Frage, ob die Briten lieber einem 60 Jahre alten Symbol verhaftet bleiben, das sie verstehen, als sich von etwas Neuem intellektuell herausfordern zu lassen, das sie - bis jetzt - noch nicht begreifen.