(German only) Wenn Künstler die Wirklichkeit abbilden und damit den Alltag reflektieren, verschwimmen die Grenzen zwischen verschiedenen Welten. Und es öffnen sich neue Türen.

Unser Alltag, wie Salt ihn sieht. Salt Werbekampagne 2015, Hauptbahnhof Zürich

Wie Kunst den Alltag aufmischt | News

Unser Alltag, wie Salt ihn sieht. Salt Werbekampagne 2015, Hauptbahnhof Zürich

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Werbung hat längst in unseren Alltag Einzug gehalten. Der Alltag jedoch auch in die Werbung. Wer mit offenen Augen durch die Strassen geht, dem fällt die aktuelle Kampagne von Salt auf: Menschen, paparazzi-like in einem unbeobachteten Moment auf der Strasse, in Menschenmengen, auf Parkbänken, in Trams abgelichtet – allesamt mit Smartphones oder Tablets, telefonierend, tippend...

Das wirkt nicht inszeniert, sondern direkt aus dem Alltag entlehnt. Werbung zeigt uns neuerdings eben nicht mehr nur das Leben, nach dem wir uns sehnen (sollen). Sie ist zunehmend auch ein Spiegel unseres Seins. Sie fungiert wie Selfies zur Bestätigung unseres Daseins.

Beat Streuli lichtet seit den 1990er Jahren Menschen in Grossstädten ab. Beat Streuli: Tokyo 98 II, 1998, courtesy the artist

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Beat Streuli lichtet seit den 1990er Jahren Menschen in Grossstädten ab. Beat Streuli: Tokyo 98 II, 1998, courtesy the artist

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Die Werbebilder erinnern an die Kunst von Beat Streuli: Seit bald zwanzig Jahren hat er sich darauf spezialisiert, Menschen auf der Strasse zu porträtieren und gewinnt dem Alltag dabei ungeahnte Poesie ab.

Seine Fotografien entstehen auf Streifzügen durch Grossstädte. Die Bilder von Menschen im öffentlichen Raum von New York, Tokio, London, Marseille, Moskau oder Dubai sind unter Zuhilfenahme eines Teleobjektivs aus grösstmöglicher physischer Distanz aufgenommen, suggerieren aber nächste Nähe und Intimität. Der Fluss ihrer Bewegungen wird durch die Fotografie unterbrochen, die ephemeren Begegnungen werden zu dauerhaften Zuständen, statisch und analysierbar. Streulis unzählige Aufnahmen bilden ein immenses Archiv städtischen Alltags. Sie leben von ihrer Assoziationskraft und Interpretierbarkeit. Die Narrativität der minimalen Gesten sowie der kinematografische Charakter des Dargestellten sind ausschlaggebend dafür, ob sie in Streulis Bilderreigen überleben oder nicht.

Menschen aus aller Welt im Fokus des Künstlers. Beat Streuli: Bruxelles 05/06, 2006, courtesy the artist

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Menschen aus aller Welt im Fokus des Künstlers. Beat Streuli: Bruxelles 05/06, 2006, courtesy the artist

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Und nun operiert die Salt Kampagne mit Bildern, die Streulis Kunst zum Verwechseln ähnlich sehen. Muss die Werbung innovativ sein und den Alltag ins Zentrum rücken, weil keine Budgets mehr für teure Models und Locations vorhanden sind? Oder ist die Ästhetik der zeitgenössischen Fotografie den Werbern so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie bewusst oder unbewusst künstlerische Strategien zur Werbesprache erheben? Wie dem auch sei: Streuli sieht zwischen der Salt Kampagne und seinen Bildern „eine subversive Ähnlichkeit“. Subversiv, weil seine Motive ähnlich daherkommen, aber schnell deutlich wird, dass sie keine Werbebotschaft haben. Die Nähe zur Werbung, von der sich seine Bilder beinah demonstrativ absetzen, sucht er schon seit den 1990er Jahren, als er anfing, sie wieder an den Ort ihrer Entstehung zurückzuholen. Seither sind Streulis Porträts auf Billboards und Plakatwänden in der ganzen Welt anzutreffen. Sie müssen jedoch weder Verkaufszahlen steigern,
noch neue Bedürfnisse schaffen. Sie sind auch nicht temporär und nur für den schnellen Verzehr gedacht. Mit dem Festhalten von flüchtigen, intimen Momenten aus dem Alltag lässt Streuli vielmehr innehalten. So wie zum Beispiel in Gent mit dem Projekt „La Voie publique“.

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Faszinierende Begegnungen beim Durchfahren / -schreiten des Tunnels am Bahnhof Sint-Pieters in Gent. Beat Streuli: La Voie publique, Bahnhof Sint-Pieters, Gent, 2011. Sammlung der Stadt Gent, courtesy the artist

Im Zuge des Umbaus des Genter Bahnhofs wurde ein temporärer Tunnel für die Strassenbahn sowie für Fussgänger und Radfahrer angelegt. Um das Durchfahren/Durchschreiten dieser Passage nutzerfreundlicher zu gestalten, wurde Beat Streuli eingeladen, die eine Tunnelwand künstlerisch zu gestalten.Über fast hundert Meter erstreckt sich mit „La Voie publique“ nun eine über drei Meter hohe Szenerie von aneinandergereihten Portraits von Menschen aus aller Welt. 57 breitere und zwölf schmalere Lichtboxen, durch Metallrahmen voneinander getrennt, rhythmisieren die Bilderwand. Die manchmal sich über mehrere Boxen erstreckenden Fotografien treten in „Kontakt“ mit den angrenzenden, zuweilen auch nur eine Box einnehmenden Portraits.

Beim Entlangschreiten entsteht der Eindruck einer Narration. Die 35 abgebildeten Porträts erscheinen nicht mehr statisch, man sieht und versteht sie in Sequenzen. Sie wirken wie die Protagonisten aus einem unbekannten Film. Protagonisten, die in Bewegung sind, im Gespräch, konzentriert, zielstrebig, schlendernd, lachend, einander zu- oder abgewandt, in sich gekehrt... Diese Menschen, die sich im realen Leben nie begegnet sind, nehmen in „La Voie publique“ miteinander Fühlung auf. Individuen und ganze Kontinente rücken zusammen, kulturelle Unterschiede werden als selbstverständlicher Teil einer globalen Gesellschaft sichtbar.

Beat Streuli: La Voie publique, Bahnhof Sint-Pieters, Gent, 2011. Sammlung der Stadt Gent, courtesy the artist

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Beat Streuli: La Voie publique, Bahnhof Sint-Pieters, Gent, 2011. Sammlung der Stadt Gent, courtesy the artist

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Kunst und Stadtmarketing

Streulis überlebensgrossen und hinterleuchteten Fotos von Passanten am Genter Bahnhof funktionieren identitätsstiftend, nicht nur in Bezug auf ein gesellschaftliches Bewusstsein in der Welt, sondern auch in Bezug auf eine persönliche Identifikation mit dem Ort. Diesen Anspruch, den die Kunst an sich stellt, teilt sie seit einigen Jahren mit den Stadtmarketingabteilungen dieser Welt. Kunst hat sich zu einem populären, zuweilen auch kritisierten Instrument entwickelt, um die Akzeptanz von stadtplanerischen Veränderungen zu erhöhen und Ortsidentität zu betonen oder gar zu schaffen. Trotz möglicher Instrumentalisierung zeigt sich hier dennoch auch ihre Stärke. In ein paar Jahren, wenn der Tunnel einer Ladenpassage weichen muss und Streulis Porträts die Rückwand dieser Geschäftszone bilden werden, wird der Bahnhof immer noch der Ort sein, an dem Menschen aus aller Welt auf Porträts von Menschen aus aller Welt treffen werden.

Über 4m hohe Porträts von Menschen aus aller Welt für die Fenster der Anwaltskanzlei Arendt und Medernach im Diener und Diener Neubau in Luxemburg. Beat Streuli: World City, 2015, Luxemburg, courtesy the artist

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Über 4m hohe Porträts von Menschen aus aller Welt für die Fenster der Anwaltskanzlei Arendt und Medernach im Diener und Diener Neubau in Luxemburg. Beat Streuli: World City, 2015, Luxemburg, courtesy the artist

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Kunst und Unternehmensmarketing

Auch Streulis neueste Arbeit zeigt uns eine durchmischte Welt, in der unterschiedliche Ethnien, Religionen und soziale Schichten aufeinandertreffen. Für die weltweit agierende Anwaltskanzlei Arendt und Medernach hat der Künstler eine Arbeit für den neuen Hauptsitz in Luxemburg geschaffen.

Monumentale, aber transparente Porträts, die er an den Orten der Firmenniederlassungen aufgenommen hat, bevölkern nun die über vier Meter hohen Fenster des Diener & Diener Neubaus und sind sowohl von aussen als auch innen sichtbar. Je nach Lichtsituation und Standort vermengen sich die Bilder mit den Gebäuden und dem Verkehr im Aussenraum – oder mit den Mitarbeitern im Inneren des Gebäudes.
Das Hier und Jetzt vermengt sich mit der Allgegenwart einer globalisierten Welt.

Kunst in der Unternehmenskultur schafft ein kreatives Environment für die Mitarbeiter und hat somit direkten Einfluss auf das interne Arbeitsklima und auf die Identifizierung mit der Firma. Im persönlichen Austausch mit Kunden funktioniert sie als Türöffner und Brückenbauer zwischen Unternehmen und Kunden oder Geschäftspartnern, zwischen verschiedenen Herkunfts-, Berufs- oder Alterswelten und fördert so gegenseitiges Verständnis. Nach aussen hat sie das Potenzial, ein gewünschtes Image zu kommunizieren

Auch von aussen gesehen vermengen sich Innen und Aussen, Mensch und Umwelt. Beat Streuli: World City, 2015, Luxemburg, Bild: Eric Chenal

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Auch von aussen gesehen vermengen sich Innen und Aussen, Mensch und Umwelt. Beat Streuli: World City, 2015, Luxemburg, Bild: Eric Chenal

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Streuli versteht es, all diese Register zu ziehen, ohne dabei den Anspruch der Kunst aus den Augen zu verlieren, einen Moment des Innehaltens zu kreieren, ein neues Fenster auf die Welt zu eröffnen. Ob im Museum, im öffentlichen Raum oder im Firmenkontext, es gelingt ihm in jedem dieser Kontexte, Einblicke in Universen zu geben, die unverhofft grosse Intimität vermitteln. Ihre Faszination liegt unter anderem darin, dass seine zum Teil monumentalen Bilder die kleinen, selbstverständlichen Dinge unseres Alltags aus dem Vergessen heben und ihnen die Bedeutung geben, die unser Leben so lebenswert macht: „A simple touch. A kiss. Water splashing. The smell of diesel. Watching the horizon. People watching. A blank stare. Laughing with a friend. Simple things. Small things. Everyday arcadias“*.

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* Aus Trevor Smith: Everyday arcadias, in: 'Bondi Beach/Parramatta Road, 1998', Ausstellungskatalog Sprengel Museum, Hannover 1999

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