Rezension: 'Mythos Metropolis' von Franziska Bollerey
Text by Susanne Junker
Berlin, Germany
20.05.10
Die Stadt mit ihrem Reichtum an narrativen und mythischen Bildwelten hat über eine lange Zeit hinweg einen besonderen Topos in der modernen Vorstellungswelt belegt. Ein neues Buch von Franziska Bollerey, herausgegeben in deutscher und englischer Sprache, spürt der Rolle nach, die das Universum Stadt für das kreative Schaffen von Schriftstellern, Malern und Filmemachern gespielt hat. Diese Architonic Buchbesprechung entführt Sie ins Zentrum dieses 'Mythos Metropolis'.
„Ich bitte Sie, Ihre Arbeit für einen Moment anders zu betrachten, als Aufgabe, künftigen Kindern Herkunftsorte zu schaffen, Städte und Landschaften, die die Bilderwelt und die Vorstellungskraft dieser Kinder formen werden. Und ich möchte, dass Sie das Gegenteil dessen in Erwägung ziehen, was per Definition Ihre Aufgabe ist: nicht nur Gebäude zu konstruieren, sondern Freiräume zu schaffen, um Leere zu bewahren, damit das Volle nicht unsere Sicht versperrt und das Leere zum Ausruhen erhalten bleibt. (...) Städte erzählen keine Geschichten. Aber sie können etwas über Geschichte erzählen. Städte können ihre Geschichte in sich tragen und können sie zeigen, sie können sie sichtbar machen, oder sie können sich verbergen. Sie können Augen öffnen, so wie Filme, oder sie können sie schliessen.“ so der Regisseur Wim Wenders in einem Vortrag vor japanischen Architekten.
Richard Matz, Weltstadtverkehr Berlin, Alexanderplatz, um 1933, Lithographie
Richard Matz, Weltstadtverkehr Berlin, Alexanderplatz, um 1933, Lithographie
×Diese Aufforderung, die schon ein Stück Resignation in sich trägt, könnte auch als Motto dieses Buchs dienen. Franziska Bollerey, Hochschullehrerin und Leiterin des IHAAU - Institute of History of Art, Architecture and Urbanism - der TU Delft, beschäftigt sich mit dem Bild, neudeutsch marketingmässig auch „Image“ genannt, von Städten, der Wahrnehmung und Erzeugung von Bilderwelten. Folglich sucht und findet sie diese Bilder nicht unbedingt in Architektur und Stadtplanung, sondern vielmehr in der bildenden Kunst und der Literatur sowie in Fotografien und Filmen. Diese Fundstücke, die insbesondere Berlin, New York, Paris und Tokio zeigen, werden von Fransziska Bollerey in einer Art Collage miteinander verflochten. Als Gliederung, von ihr selbst skurrilerweise als „Korsett“ bezeichnet, dienen so etwas wie Anhaltspunkte für die Art und Weise, in der die Bilder gelesen oder gar „verwertet“ und „ausgebeutet“ werden:
Berlin-Kreuzberg, Brandwände an der Lindenstrasse, um 1980, Foto Franziska Bollerey
Berlin-Kreuzberg, Brandwände an der Lindenstrasse, um 1980, Foto Franziska Bollerey
ו Die sanfte Lesart, à la „Sehmenschen“ wie George Grosz, Wim Wenders oder Rainer Maria Rilke
• Die Masse montiert, wie bei George Grosz, Piranesi, Gustave Doré, Alfred Döblin und vielen anderen, als Charakteristika Dynamik, Simultaneität, Chaos
• Die Stadt als Bedrohung, die Aggression und Distanz auslöst, als Beispiele Fritz Langs "Metropolis", Ridley Scotts "Blade Runner", Charles Dickens und Henry Miller, ebenso Armut und Elend besonders der Kindern bei Käthe Kollwitz und Berenice Abbott.
• Ich und die Stadt thematisiert psychologische und physiologische Anforderungen und Überlebenstechniken
Ein abschliessender Essay lenkt das Augenmerk noch einmal gezielt auf die geschichtliche Entwicklung und Nutzung dieser Bilder, ihre Ausnutzung als Ware und die möglichen Chancen für zukünftige städtische Lebensqualität.
Giovanni Battista Piranesi, Vision der alten Via Appia e Ardeatina, 1757, Radierung
Giovanni Battista Piranesi, Vision der alten Via Appia e Ardeatina, 1757, Radierung
×Wie leicht und gleichzeitig so gedankenvoll gelingt Franziska Bollerey hier ein regelrecht sokratischer Dialog, das Vergegenwärtigen von Kenntnissen, die ganz tief in Kopf und Bauch abgespeichert sind, um nun die Augen zu öffnen. Sehen und Denken als Selbstbesinnung, Urbanität als Gegenrezept zu Kleingeistigkeit, Borniertheit und Selbstgerechtigkeit. Bleibt als einziger Kritikpunkt festzuhalten, dass die Abbildungen um ein Vielfaches grösser sein dürften.
Architekten kommen im Prinzip nicht zu Wort, Corbusier darf eine Ausnahme machen, 1910 in einem Brief an seine Eltern: "Selten habe ich zehn so anstrengende Tage wie diese verbracht. Ich habe Kilometer und Eindrücke jeglicher Art abgespult. Ich wüsste nicht, wie ich ein einfaches Urteil über Berlin abgeben sollte. Das Schöne mischt sich zum Schrecklichen des infernalen Lebens einer Grosstadt. Vielleicht sind die Eindrücke wegen dieser Kontraste stärker: Ich habe das Gefühl das Maximum aus diesem kurzen Aufenhalt herausgeholt zu haben."
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'Mythos Metropolis: Die Stadt als Sujet für Schriftsteller, Maler und Regisseure – The City as a Motif for Writers, Painters and Film Directors' von Franziska Bollerey
Gebunden mit Schutzumschlag
150 Seiten
17 x 24 cm
128 Abbildungen
Gebrüder Mann Verlag Berlin
ISBN 978-3-7861-2594-5
Text deutsch und englisch
Erschienen 2010